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Ich kann dich hören

Autor Katharina Mevissen
Verlag Wagenbach
ISBN 978-3-803-13306-9

In diesem Debüt-Roman steht das Hören und Wiederhören im Vordergrund, ein Hören, das das Passivische ins Aktive dreht und dadurch Osman, die Ich-erzählende Hauptfigur, für das Zwischenmenschliche, für das Kommunizieren als Aspekt des Miteinanders sensibilisiert.

Hörend – hörig?
Durch den Fund eines Diktiergeräts wird Osman die Möglichkeit geboten, das Hören zu lernen, vom Hörenkönnen und Hörenwollen ins Selbstreflektieren, ins Miteinander und in den verbalen Austausch (Dialog) selbst mit seinem Vater zu gelangen. Das Diktiergerät und Osamans Umgang damit ist die Initialzündung dafür, dass er sich seiner von ihm als schwierig erlebten familiären Historie und Gegenwart insofern emanzipiert, als er sich ihr stellt – nicht zuletzt durch ein Foto, das ihn bewegt, seinen Vater mit einem von diesem gehüteten Familiengeheimnis zu konfrontieren. Dies wird dem 24-jährigen deutsch-türkischem Musikstudent, der in Essen aufwuchs und in Hamburg in einer Wohngemeinschaft lebt, ermöglicht durch das wiederholte Ab- und An- und Zuhören der Aufnahmen auf einem Diktiergerät, das er zufällig (?) im Bahnhof gefunden hat. Der erkennbar um eine Idee konstruierte Roman (insofern Konzeptroman) wählt dominant die Ich-Perspektive von Osman, lässt aber auch Eliade und Ella zu Wort kommen. Die Entwicklung Osmans zeigt sich parallel in dem schlussendlichen Gelingen einer für ihn zunächst nicht adäquat zu spielenden Passage. Soll sie wie „Nieselregen“ klingen, ruft er spielend – sein inneres Chaos spiegelnd – ein „Gewitter“ hervor. Am Ende seiner Wandlung gelingt es ihm, den Nieselregen zu spielen.

Musik hören
Für die Erweckung und Entdeckung, dass Musik und musikalische, tonale Ausdrucksformen, mit denen er als Cellist ähnlich verwachsen ist wie sein Violine spielender berühmter Vater (was Osman ihm in der Sohn-Vater-Beziehung radikal vorwirft), nicht genügen, um sich als Mensch mit anderen zu verständigen und sich wohl zu fühlen, sind maßgeblich mitursächlich: seine Ziehmutter und Tante, Eliade, der Handbruch seines Vaters, Suat, und die zwei Schwestern, Ella und Jo, die er durch die Aufnahmen Track für Track immer näher kennenlernt und – wegen der Taubheit der einen – zu-, hinhören und hörend warten lernt, indem er Worten und Geräuschen lauscht und sie deutet.

Die Beschreibungen der musikalischen inneren Erlebnisse sind metaphernreich und feinsinnig und insofern aus Lesererleben gelungen, als man die Töne anhand der Sprachbilder hören und das musikalische Geschehen mitvollziehen kann. Beherrscht bereits diese Beschreibungen innerer Zustände und musikalischer Bilder eine einfache Syntax, gilt das für die Dialoge und Situationsbeschreibungen allemal. Dieser Anteil des Romans ist für jene Leser insofern mühsam zu lesen, als die Sätze noch kürzer, oft unvollständig (in Dialogen gewollt), oft abgehackt bis hektisch ausfallen. Passagenweise ist das ein intendiertes Stilmittel, nachvollziehbar und naheliegend; zahlreiche andere indes überzeugen weder stilistisch noch logisch oder psychologisch (Figuren-, Beziehungspsychologie). HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de

Hanspeter Reiter