Ich und die Anderen
Autor | Isolde Charim |
Verlag | Zsolnay |
ISBN | 978-3-552-05888-0 |
Die meinungsstarke und Kompliziertes durch Polarisierung eher simplifizierende Abhandlung der freien Publizistin und Kolumnistin der „taz“ sowie der „Wiener Zeitung“ und wissenschaftlichen Kuratorin am Bruno Kreisky Forum, Isolde Charim, bietet zeitdiagnostisch Interessierten sachlich kaum bis nichts Aufregendes, gar Neues – auch wenn die verbalen Konstrukte ebendies suggerieren. Wer sich hingegen neu mit der Materie befasst, liest das Buch mit Gewinn und dem Ansporn, sich auf diesem Feld nach anderen Beschreibungen, Analysen, Deutungen umzusehen, um vielleicht auch zu der Schlussfrage der Autorin (s.u.) eigene Antworten zu finden.
Bedauerlicherweise leidet die präzise Verwendung von Begrifflichkeiten, insbesondere der Kategorien „Ich“ und „Identität“, „Pluralisierung“ als Vermehrung (die nicht zwangsläufig in Verschiedenheitswachstum mündet), wo argumentativ der Terminus Heterogenität (verschiedener Herkunft, verschiedener Genese) gedanklich weiterführend wäre.
Die Betonung des Konstruktiven bzw. Konstruktivistischen bezeichnet eine Schlüsselkategorie: Konstrukt, und damit als weitere denknotwendig verbunden: Kontingenz. Oder mit Jean Paul Satre: Menschen sind verdammt zu Freiheit, damit zu Wahl und Entscheidung – die immer auch anders ausfallen könnte (hätte können). Nach Isolde Charim sind „wir“ (wer immer das sein mag; jedenfalls nicht sämtliche Menschen des Globus`, nicht einmal die einer Gesellschaft) heute dazu genötigt, uns eingedenk fremdartiger Nachbarschaften in gleichsam allen Lebensmilieus (ideologisch, kulturell, behavioral) ständig neu zu arrangieren und als Ausfluss der Pluralisierung der subjektiven Lebenswelt, der Einwirkungen der Pluralität auf das Ich ein Weniger an Ich (als Konstante begriffen) und ein Mehr an Ich- oder Identitätskonstruktion zu realisieren.
Analog der Idee des radikalen Konstruktivismus: Der „neue Pluralismus“ verunmöglicht es, ein konsistentes Ich, eine kulturelle Identität zu empfinden bzw. herzustellen, weil heute, in der Phase des „dritten Individualismus“ (nach der 1968er Parole, alles Private sei auch politisch, sowie nach der Auffassung der Moderne, Ich sei ein Situationen überdauernder Zug der Person), sämtliche traditionalen und beständigen, als selbstverständlich erlebten Zugehörigkeiten beseitigt seien. „Wir“ seien genötigt, das Ich immer wieder neu zu entwerfen, kontextuell flexibel zu sein, und zwar in sämtlichen Belangen der Lebensführung (S. 96ff).
Die andere Seite dieser Freiheit oder „multiplen Optionen“, die als Wahlzwangentscheidungen daherkommen, liegt in der „Kontingenz“, in dem Gefühl oder Bewusstsein, dass sich das Ich auch anders konstruieren, konfigurieren lässt – und exakt hierin verbirgt sich wiederum ein Motiv für Verunsicherung: Weil Wahlfreiheit einhergeht mit Anstrengung und – auf Dauer gestellt – mit Erschöpfung (wie neuere Untersuchungen zeigen) sowie mit der Frage nach der „richtigen“, „besten“ Wahl, und weil diese entweder nicht oder nur kurzfristig, situativ beantwortet werden kann und es grosso modo „uns“ an Orientierung, an Eindeutigkeit, Bestimmtheit, Selbstverständlichkeit mangelt, suchen „wir“ nach einfachen oder vereinfachten Lösungen, einschließlich „starken Persönlichkeiten“ in Politik und Gesellschaft, die „uns“ das Denken und die Verantwortung abnehmen und exkulpieren.
Die Verunsicherung und Suchbewegungen sind der Freiheit der Wahl in allen Lebensbezügen geschuldet. „Wir leben im identitären Prekariat.“ (S. 48). (Prekarisierung wird definiert als „Verlust garantierter Eindeutigkeit“, S. 97). „Wir sind immer weniger selbstverständlich Ich.“ (ebd.) In die Ich-Konstruktion müsse heute „die Außenperspektive“ hinzugenommen werden. Das ist nicht erst heute so und wird in Philosophie seit Jahrhunderten, in Soziologie und Psychologie seit Jahrzehnten diskutiert, etwa bei George Herbert Mead (I, Self, Me; Georg Simmels Unterscheidung von dem Ich als „Schnittpunkt sozialer Kreise“; prominent bei Friedrich Nietzsche und anderen, im vorgängigen Philosophen: die Frage nach dem Ich bzw. der Identität und der Bildung von beidem ist eine genuin philosophische.
Der Gedankenstrang von gleichsam einer Ich-, Identitätskonstruktion in Permanenz, dem unaufhörlichen Wählenmüssen bei gewachsener Unübersichtlichkeit, Beliebigkeit und Loslösung von Traditionen führt Isolde Charim zu Erscheinungsformen linken und rechten Populismus` und passender Identitätspolitik (samt Safe Spaces, Politcal, Moral Correctness-Attitüden u.dgl.), zu der auch der Rückzug in bzw. die Radikalisierung von Religiosität (Fundamentalismus, Tradition) gehören.
In die Kategorie der Simplifizierung fällt ebenfalls das Verflachen von Diskurs und Dialog durch Verwechseln von Argumenten mit Meinungen, das Ersetzen von Denken durch Fühlen und Moralisieren, von Durchhaltevermögen und Tragfähigkeit durch Flüchtigkeit und Kurzlebigkeit (getarnt als Adaptivität und Flexibilität, die heute für sich genommen als erstrebenswerte Werte hochgehalten werden), die Verwechslung von (gesellschaftlicher, politischer) Partizipation mit Umsetzungs-, Glücksversprechen („politischer Hedonismus“) etc..
Die Facetten der Diagnose der Autorin finden sich nicht nur in zahlreichen Feuilletonbeiträgen und Fachpublikationen, sondern bereits in kultursoziologischen Schriften von vor Jahrzehnten. Der Grundgedanke damals wie heute: Ausdifferenzierung, Heterogenisierung und Pluralisierung der Lebenswelt/ Gesellschaft geht einher mit dem Verlust von Selbstverständlichkeiten; dies kann überfordern, und damals wie heute reagieren viele Menschen (darunter auch so genannte nicht-populistische Politiker, Journalisten und Intellektuelle), das über Vereinfachungen, Radikalisierung, Vereinseitigung, über Rückzug bzw. Expressivität oder Exponierung (siehe z.B. soziale Medien). Auf psychologischer Ebene wurde bereits in den 1970ern von „Patchwork-Identität“ und – Familie (z.B. K-H. Keupp) gesprochen. Und dass überfordernde Komplexität emotional und kognitiv mit Vereinseitigung (Dissonanzreduktion) beantwortet wird, ist ebenso lange bekannt.
Neben gewachsener Undurchschaubarkeit und Verunsicherung (Sinnfragen, Gerechtigkeits-, Existenzfragen etc.) geht es bei Pluralisierung nicht nur um Vielfalt im Sinn romantisierter Vermehrung von Farben („Wir sind bunt“), sondern um eine Vielfalt, die mit Unvereinbarkeit, Inkompatibilität und Hilfebedürftigkeit und Konflikt assoziiert und im Alltag erlebt wird. Isolde Charim tappt leider in die beliebte Falle, Gegnerschaft zu psychologisieren (Angst vor, Abwehr von…). Das gilt subjektiv wie auch kollektiv.
Kollektiv in dem Fall, in dem sich eine ideologische Strömung wie die nun nicht mehr angeblich „emanzipierte Identitätspolitik“ in der Tradition der Sozialen Bewegungen der 1970er und im Namen der „Befreiung“ von Minderheiten und Benachteiligten sich nun aus der Opferhaltung heraus moralische Überlegenheit attestiert und in diesem Sinn gegen ein Arrangement mit Pluralisierung agiert (181ff, 171ff; Safe Spaces, Genderismus, Political und Moral Correctness-Auswüsche besonders in den USA und GB, aber auch in der BRD, nachzulesen u.a. in FAZ, FAS und der NZZ, demonstrieren die Macht dieser Strömung eindrücklich) gegen die „neue Pluralisierung“ stellt.
Im Nachwort fragt die Autorin: „Was tun?“ und definiert die „Frage als Symptom“. Das ist hübsch, indes wenig; denn diskutiert und debattiert wird seit Jahren bzw. Jahrzehnten. Die Begründung für diese Zuschreibung klingt wie eine Verlegenheitsantwort, die auf einer Überzeugung (Sehnsucht nach und Entlastung durch Helden, Autoritäten) basiert, die man nicht teilen muss und durchaus, gerade im Milieu der fluid democracy, kontrovers diskutiert wird: Die Frage sei symptomatisch, weil „sie heute letztlich nicht einfach nach Programmen fragt, sondern nach Personen, die „wissen“, nach Personen, denen man glauben kann, dass sie wissen, dass sie eine Antwort geben können“ (216).
Die Frage verkürzt die Richtung zudem auf „Populismus, Ungerechtigkeit, Kapitalisierung aller Lebensbereiche“ (215), und auch das ist eine Verkürzung, die zudem das Hauptthema „Pluralisierung“ und ihre Folgen für Einzelne und Gesellschaften, verfehlt.
„Was tun“ in Bezug auf was? – dies bleibt unspezifisch. Eine präzise Formulierung hülfe, die Richtung von Maßnahmen zu markieren und zielgerichtet kreativ zu werden – und die Ideen in der bisherigen Kontroverse gesellschaftskultureller und politischer Intervention einzuordnen.
Dieser Essay mag als Grundlage für eine weiterführende Kontroverse dienlich sein.