Skip to main content

In Schopenhauers Gegenwart

Autor Michelle Houellebecq
Verlag DuMont
ISBN 978 3 8321 9882 4

Der Schriftsteller Michel Houellebecq, berühmt, international, preisgekrönt und Kontroversen auslösend, teilt den Lesern anhand von besonders aussagekräftigen Zitaten mit, aufgrund welcher Lesart seine Lektüre von Arthur Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ sowie „Aphorismen der Lebensweisheit“ im Alter von fünf- oder sechsundzwanzig Jahren (präzise erinnert sich der Autor nicht) seine Weltsicht gekippt hat – eine Erfahrung, die sich zehn Jahre später wiederholte, dieses Mal mit dem Gegenpart allen Metaphysischen: mit Auguste Comte und damit dem Positivismus als Epistemologie und der Soziologie (verstanden als Soziale Physik) als Weltanschauung.

Michel Houellebecq leitet das schmale Bändchen ein mit kommentierten Zitaten zu Schopenhauers Verständnis der Welt, die durch den Willen (als funktionales Äquivalent zu Gottheiten aller Religionen deutbar) hervorgebracht wird und Leben vor allem anderen, fundamental als Leiden begreift und entsprechend ein leidensloses Leben entweder in der Verneinung des Lebens oder aber in der interesse- und leidenschaftslosen Betrachtung der Kunst für möglich hält. (Deutlich hier der Einfluss asiatischer Philosophien, die Schopenhauer in seinen Werken keinesfalls verschweigt.)

Die sechs Kapitel des Bändchens benennen die Kategorie der jeweils ausgewählten Zitate und deren Kommentierung und geben zugleich wieder, was es war, das den Mitzwanziger an der Lektüre Schopenhauers aufgerüttelt hat. Da ist die (von Immanuel Kant) bekannte Figur des der Erkenntnis Möglichen, hier: der Welt als Vorstellung eines (metaphysischen) Willens, der immer schon mit dem Menschen in der Welt ist und sich in Leidenschaft, Interesse, Abhängigkeiten zeigt. Die von Kant konzediert Nichterkennbarkeit des „Ding an sich“, also das Erkennen unabhängig des menschlichen Verstandes-, Vernunftapparats und seinen Kategorien, spielt bei Schopenhauer und damit bei Michel Houellebecq insofern keine Rolle, als es grundlegend um eine andere als die Frage nach Erkenntnismöglichkeit geht: nämlich um die Frage nach einem lebenswerten Leben, nach kunstvoller Lebensführung oder Lebenskunst.

Diesem Aspekt gilt der überwiegende Anteil der kommentierten Zitate, in denen selbstredend der Autor auch von sich selbst spricht, sowohl in Bezug auf seine An- und Einsichten, was dieses Leben lebenswert macht, als auch in Bezug auf die Frage nach der Schönheit von Kunst. Der aufmerksame und mental offene Leser wird mit und ohne Hinweise vom Autor leicht bemerken, inwiefern diese Facetten Schopenhauers Philosophie gegenwärtig aktuell nachdenkenswert sind. Die Frage nach dem, was „wahr“ bzw. erkennbar und unbestreitbar ist, erfreut sich medialer Diskussion und politischer Relevanz, ähnlich wie die Frage nach einem sinnvoll, glückerfüllten Leben und dem Stellenwert von Intellekt, Moral und Gefühl.

Sinnhaftigkeit, Glückseligkeit, Lebenswertes, Schönheit im philosophischen Sinn findet Schopenhauer allein in der oben genannten immersiven, kontemplativen Betrachtung von Kunst – die Interesse-, Gefühllosigkeit ermöglicht das reine Schauen (Cezanne, Merleau-Ponty ganz ähnlich), das man als Versenkung beschreiben kann. Für jene, denen das nicht gelingen mag, hält Schopenhauer trotz seiner oft nihilistisch genannten Philosophie einen Trost entgegen, der in einer – modern formuliert – authentischen, vom Applaus anderer unabhängigen und grundsätzlich einverständigen Lebensführung liegt.
Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Regina Mahlmann