Skip to main content

Krass

Autor Martin Mosebach
Verlag Rowohlt
ISBN 978-349-804541-8

Alles an ihm ist groß, raumgreifend, einverleibend, beeindruckend: seine Körperlichkeit, seine Stimme, sein Schweigen, sein Selbstbild, sein Denken, seine Großzügigkeit im Reichtum; diese verflochten mit der Größe seines Wirkens auf andere: diese absorbierend trotz seiner von den anderen wahrgenommenen gleichsam ständig hochgezogenen Augenbrauen. Groß auch seine Dankbarkeit, sein inneres Monologisieren im Krankenbett und beim Sterben. Ralph Krass ist der Hauptcharakter in dem Roman von Martin Mosebach.

Krass & Co.
Und in seiner Größe und Absorptionsmacht angewiesen auf andere. Auf Lidewine, die junge Frau, mit der einen ungewöhnlichen Vertrag als Begleiterin schließt, und die diesen Vertrag bricht. Auf Dr., später Professor Jüngel, der ihm zunächst als Handlanger dient. Auf Mohammed, der ihn als Vater adoptiert, rettet und im Sterben voller Hochachtung begleitet. Und selbst auf die Nebenfiguren in der gesamten Phase seines dargestellten Lebens. Verzweigungen, die schlussendlich, nach zwanzig Jahren, die drei ehemals Verbündeten (Ralph Krass, Professor Jüngel, Lidewine) in Kairo zusammenführen. Es ist kein Entwicklungsroman von Persönlichkeiten, auch wenn aus Dr. Jüngel ein Professor wird, und auch wenn Lidewine dank ihres berühmt gewordenen Vaters nach dessen Tod in der Kunstwelt reüssiert, und auch wenn Ralph Krass von Reichtum in Armut fällt.

Perspektiven
Die Erzählperspektiven wandern, obgleich der allwissende Erzähler, Martin Mosebach, über den Perspektiven steht und dort erzählerisch-wissend aufklärt, wo es die Akteure selbst nicht können. Neben seinen Schilderungen erfahren wir Leser Handlung, Atmosphäre, kulturelles, historisches Wissen über verschiedene Orte des Geschehens, etwa Neapel, Kairo oder – als Notrefugium Dr. Jüngels – einen Ort in der französischen Provinz, und das Kennenlernen weiterer Akteure maßgeblich aus der Feder von Dr. Jüngel. Zunächst als Dr. Jüngel in der Funktion als Exekutor der Willensbekundungen des offenbar unermesslich reichen Ralph Krass, in der Form innerer Monologe und Faxbriefe an seine in Deutschland lebende zukünftige Gattin und Ex-Gattin, später, als Professor in Kairo, in der Form von Tagebucheintragungen. Im Wechsel dazu der allwissende Erzähler, der uns (u.a.) Lidewine und ihre Persönlichkeit näherbringt, ergänzt um die Gedanken von Professor Jüngel anlässlich eines unerwarteten Wiedersehens in einem Hotel in Kairo. Lidewine, die – wird der Leser im Verlauf der Lektüre gewahr wird – durchaus Strukturähnlichkeit mit den Hauptcharakteristika von Ralph Krass zeigt. Und doch von ihm insofern unterschieden ist, als sie nie wertet oder (ver-)urteilt, stets ihr Leben in einer Art Urvertrauen in das Gute, Nützliche begreift, dabei egozentriert und nicht empathisch ist, sondern mit ihrem Lachen und ihrer Unbekümmertheit, ihrer Apathie in Bezug auf Ereignisse und der Bereitschaft, aus jeder Lebenssituation das Beste für sich zu machen, doch vereinnahmt wird von dem großen Mann. Und Mohammed, der den äußerlich heruntergekommenen Ralph Krass nicht zuletzt aufgrund von Projektionen eigener Bedürfnisse und impliziter Missverständnisse, als „Vater“ bezeichnet und zunehmend als diesen empfindet, als innerlich Verwandten und moralisch Überlegenen.

Moral?!
Martin Mosebach widmet sich gleichsam ohne moralische, gar moralisierende Vorzeichen und Wertungen jeder seiner Figuren so ausführlich, wie es nötig ist, um die Atmosphäre und den Zusammenhang ihres Agierens und Interagierens verstehen, nachvollziehen zu können. Ohne Psychologismen und mit viel Bedacht auf die jeweils kulturellen, milieuspezifischen und äußeren Hauptaspekte, zu denen Klima und Wetter gehören, ferner Naturumgebungen ebenso wie Architektur, Infrastruktur und Hygiene, verflicht er innere Monologe, biographische Schnipsel und Handlungen. Der Autor versteht es glänzend, trotz der allgegenwärtig nahezu melancholischen, gräulichen und gleichzeitig nicht tristen, vielmehr grundruhigen Gestimmtheit und dank seiner sprachlichen Brillanz, die Genauigkeit und Differenziertheit mit ungewohnten Sprachbildern verbindet, den Leser geistreich zu unterhalten: informierend, philosophische Sentenzen als Anregung zum Sinnieren anbietend, eine geschlossene Handlung bietend. Nicht zu vergessen Romanhandlung bzw. die diversen Geschichten, die in einer zusammenlaufen, überraschende Charaktere, Interaktionen sowie Ein- und Ansichten, die unselbstverständlich sind und keiner Bewertung bedürfen, vielmehr mit akzeptierendem Gestus wert sind, bedacht zu werden.

Sorgsam lesen!
Der Roman bedarf eines aufmerksamen Lesers, der sich dem langsamen, langmütigen Lauf anpasst und jeden Satz liest, aufnimmt. Oder eines Lesers, der – wenn er zunächst rein an der Handlung, am „Plot“ (gibt es den?) – interessiert ist, bereit ist, den Roman ein weiteres Mal zu lesen, um die Preziosen stilistischer, sprachlicher und literarischer Art ebenso zu bemerken wie die inhaltlichen, das eigene Be- und Denken anregende Beobachtungen, Gedanken, Handlungsmotive und Handlungsweisen – und das Amalgam von beidem. www.dr-mahlmann.de www.gabal.de

Regina Mahlmann