Management komplexer Systeme
Autor | Johannes Weyer, Ingo Schulz-Schaeffer |
Verlag | sonstige |
Seiten | 251 Seiten |
ISBN | 978-3-486-58809-5 |
Preis | 32,80 |
Dieser Reader wissenschaftlicher Aufsätze zur Thematik Komplexität und Handhabung derselben in unterschiedlichen Kontexten wird jenen Lesenden Denkanstöße geben und Wissen vermitteln, die bereit sind und Freude daran haben, theoretisch differenzierter, als es nicht-wissenschaftliche Literatur tut (etwa zu Führung von Unternehmen), über Komplexität nachzudenken.
Mit Blick auf die Praxis von Beratung von Unternehmen oder Coaching mit Topmanagern können weniger der irritierend polemisch anmutenden Einleitung Inspirationen entnommen werden, als einzelnen Aufsätzen. Einige Beispiele seien erwähnt:
Volker Schneider und Johannes M. Mauer stellen komplexitäts-theoretische Überlegungen an, die sich auf gesellschaftliche Ordnung beziehen. Sie skizzieren die historische Entwicklung „von der traditionellen Systemtheorie zur Governance-Theorie“ und formulieren schlussendlich die ersten Bausteine für einen integrativen Ansatz, der Theorien hervorbringen helfen soll, die Dynamik komplexer Anpassungen und besser verstehen zu können. Unternehmensberater seien die dorthin leitenden Überlegungen anempfohlen, insofern sie Unternehmen als soziale, sozusagen kleine gesellschaftliche Systeme betrachten, die „regiert“, gesteuert sein wollen, und zwar so, dass die Wahrscheinlichkeit überlebensdienlicher Anpassungsdynamik wächst. Hier sei auf den Beitrag von Andreas Liening hingewiesen, der in die Theorie komplexer Systeme am Beispiel der Wirtschaftswissenschaft einführt und u.a. daran erinnert, dass es mehrerer Paradigmenwechsel bedurfte, um die heutige Heterogenität zu ermöglichen.
Oder Uwe Schimank, der – zumal unterhaltsam geschrieben – grübelt, in welchem Verhältnis „Wichtigkeit, Komplexität und Rationalität von Entscheidungen“ und Planung stehen. Neben zahlreichen weiteren erhellenden Gedanken weist der Autor etwa hin auf die prinzipielle Begrenztheit von Rationalität (rationaler Planung); auf synergetische Effekte von muddling through und rationaler Planung bzw. Handhabung komplexer Problemlagen; auf den scheinbar paradoxen Umstand, dass rationale (serielle) Planung und Entscheidungsfindung versus etwa einem iterativen Planungsverständnis Komplexität erhöht, statt sie zu reduzieren. In dem Aufsatz „Komplexitätssteigerung durch Steuerung in Organisationen“ berichten Matthias Klemm und Jan Weyand von einer Fallanalyse im Rahmen eines Wissensmanagementsystems aus einem Unternehmen. Sie geben Einblicke in das, was (wie Berater wissen) häufig passiert: dass die Nachfrager von Informationen bei jenen, die sich für das Management von Wissen im Unternehmen zuständig fühlen, Denk- und Handlungsprozesse auslösen, die mit dem Nachgefragten bestenfalls wenig zu tun haben. Die Schnittmenge, so noch vorhanden, verkleinert sich – die Komplexität des gesamten Prozesses erhöht sich. Dazu führen vor allem Annahmen von Akteuren, begonnen bei Interpretationen der eigenen Rolle über steuerungstheoretische Theoreme (Annahmen über Steuerbarkeit) bis hin zu verfolgten, unterstellten, antizipierten Intentionen sowie die Wechselwirkungen zwischen diesen und einem systematischen blinden Fleck auf der Seite der Wissensmanager – all dies und die Folgen daraus schildern die Autoren, indem sie empirische Verläufe nachzeichnen und theoretisierende Analysen einschieben.
In dem Beitrag von Peter Kappelhoff: „Die evolutionäre Organisationstheorie im Lichte der Komplexitätstheorie“ entfacht die Grundidee ein assoziatives Feuerwerk. Seine Ausführungen begründen seine These, nach der „die Komplexitätstheorie nur im Rahmen eines evolutionstheoretischen Ansatzes zu verstehen ist“. Jene Berater, die mehr als ökologischen und/oder evolutionistischen Jargon reden möchten, werden hier fündig.
Hochinteressant auch die Beiträge, die sich mit Hochsicherheits-Organisationen (High Reliability Organisations) befassen, wie etwa Mathilde Bourrier, die in dem Beitrag „Das Vermächtnis der High Reliability Theory“ einen Parcours durch die Entwicklung und die wesentlichen kritischen, bis heute kontrovers diskutierten Theorieaspekte präsentiert. Im Anschluss schreibt Gudela Grote zu den „Grenzen der Kontrollierbarkeit komplexer Systeme“ und fokussiert dabei das sozio-technische System, die Interaktion von Mensch und Maschine als System, allerdings – so unüblich wie notwendig – in einem erweiterten systemischen Zusammenhang (der beispielsweise auch Zulieferer miteinbezieht!). Gerade angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise, besonders dem Schimpfen auf und Beschimpfen von Marktagenten sei der Aufsatz von Ekaterina Svetlova: „Komplexität an den Finanzmärkten“ in die Hand gedrückt. Die Autorin schildert – Stichwort sozio-technische Systeme – anschaulich und spannend, wie in der operativen Dimension, in der des Handelns, Mensch (Psyche und Intellekt, Wissen und Erfahrung, Gefühl und Intuition, kollektiv Generalisiertes und individuell Gebasteltes, Deduktion und Induktion, Heuristiken, Strategien) und Maschine (formale Modelle, automatisierte Strategien und Heuristiken, Algorithmen) interagieren – und welche Freiheiten und Unfreiheiten sowie Konsequenzen damit verknüpft sind.
Insgesamt wird die Lektüre enorm lohnend, wenn die Ausführungen weniger auf ihre Sujets bezogen gelesen werden, sondern auf ihre erkenntnistheoretischen Annahmen. Und das sind Annahmen, die – philosophisch formuliert – etwas über das Verhältnis von Mensch und Welt, die Bedingungen der Möglichkeit für Erkenntnis und damit der Möglichkeit für Beherrschbarkeit komplexer Systeme aussagen. Auch hier exemplarische Fragestellungen: Liegt es an der Grundausstattung des Menschen, dass er Komplexität nicht durchschauen, nicht beherrschen kann? Oder ist es nur ein empirisches Defizit, das er durch Lernen beseitigen kann? Ist der Gegenstand, das Komplexe, grundsätzlich erkenn- und beherrschbar? Gibt es Möglichkeiten, die Interaktion zwischen Mensch und komplexen System so zu gestalten, dass sämtliche Erkenntnis- und Beherrschungslücken gestopft werden können? Welche Folgerungen ergeben sich daraus, wenn dem nicht so ist? Wie steht es mit den in Beraterkreisen so populären Annahmen von der Wirklichkeitskonstruktion, wenn die Interaktion mit komplexen Systemen, deren Steuerung, Kontrolle, zielgerichtete Entwicklung anivisiert wird und wir von „sozio-technischen“ komplexen Systemen sprechen müssen, in denen der Einzelne aktiver Teil ist? Was bedeutet es, wenn „Komplexitätsreduktion“ eingefordert wird? Wer reduziert hier wessen/welche Komplexität – und mit welchen Aus-, Wechselwirkungen und nachfolgenden Heraus- und Anforderungen an Technik, Systeme und Menschen? Wo sind Leistbarkeiten? Zumutbarkeiten? In Bezug auf was und wen?
Zu solchen und ähnlichen Fragestellungen inspirieren die Artikel. Dazu muss man übrigens keinesfalls jede Facette des Gedankenfadens der Beiträge nachvollziehen oder akzeptieren können. Für eine bereichernde Lektüre genügt es, wenn der Ehrgeiz darin besteht, den roten Faden der Intention (Aussageziel, These) und die wesentlichen Argumente der Begründung verstehen zu wollen. Der Reader sei insbesondere jenen Beratern, Coaches und Trainern auf den Schreibtisch gelegt, deren Anspruch es ist, sich mit komplexen „Sachverhalten“ zu befassen und professionell kompetenter Sparringpartner zu sein.
Dr. Regina Mahlmann
www.dr-mahlmann.de
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