Melnitz
Autor | Charles Lewinsky |
Verlag | Diogenes |
ISBN | 978-3-257-07153-5 |
Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, erzählt von einer weit verzweigten jüdischen Familie in der Schweiz (Endingen, Baden, Zürich) in der Zeitspanne von 1871 bis 1945, in den Kapiteln mit den Jahreszahlen 1871, 1893, 1913, 1937, 1945. Der Roman, 2006 erstmalig erschienen, zahlreiche Preise, wurde – neben anderen Werken – in 14 Sprachen übersetzt und machte den Autor international bekannt. Der Diogenes-Ausgabe widmet er ein Nachwort, in dem er unter anderem erläutert, woher der Name des unsterblichen Onkel Melnitz kommt.
Jüdisches Leben
Man kann den Roman als Familiensaga lesen. Man schmunzelt, man lacht, man bangt, man ahnt Ungemach, man freut sich, man ist erleichtert und gleich wieder besorgt. Und man lernt jüdische Ausdrücke, die im Glossar übersetzt sind. Charles Lewinsky ermöglicht dem Leser, mit den Charakteren zu denken und zu leben, indem er sie in zeithistorischer Weise fühlen, denken, sprechen und handeln lässt, indem er innerjüdische Usancen, Borniertheiten, Irrtümer, Traditionen und Liberalität ebenso schildert wie antijüdische Regungen, Einstellungen, Handlungen und Beschlüsse schweizerischer Nachbarn und Institutionen schildert – nüchtern, sachlich, amoralistisch, fein im Ausdruck. Er wählt zeitgemäße Sprachbilder sowohl in lebendigen Dialogen als auch in Beschreibungen und Kommentaren in seiner Funktion des allwissenden Erzählers, etwa wenn er Dialoge knapp bis lakonisch kommentiert. Der Sog, den seine Sprache und Erzählweise entfalten, kann sich der Leser ebenso wenig entziehen wie dem Miterleben der Schicksale der Angehörigen der weit verzweigten Familie Meijer und zufälliger Bekanntschaften mit Juden und Nichtjuden.
Antisemitismus
Man kann den Roman (zusätzlich, gleichzeitig mitlaufend) auf einer Metaebene lesen, als Repräsentation einer im wörtlichen Sinn andauernden Diagnose: der des Antisemitismus, einer Judenaversion bis Judenfeindlichkeit, die mal subtil und auf leisem Fuß, mal manifest und brachial daherkommt. Einer Ablehnung, die dem Jüdischsein gilt, einer Abwehr, der Juden nicht entkommen (konnten, können). Das und damit auch die dilemmatische Grundsituation erfahren Familienangehörige der Familie Meijer (stellvertretend). Es ist Onkel Melnitz, der die Beharrlichkeit antisemitischer Grundeinstellung und des Dilemmas verkörpert, vorausahnend, auf geschichtliche Wiederholungen hinweisend, pessimistisch, sarkastisch. Sein oft vermeintlich leichter bis fröhlicher Ton täuscht. Und das wissen alle, zu und mit denen er spricht. Onkel Melnitz macht den Roman auf einer übergeordneten oder tieferen Ebene zu einem innerlich aufrührenden Roman, sofern man Onkel Melnitz nicht nur als Allegorie von Vergangenem, als Gefäß für Gedächtnis begreift, sondern seine Gegenwart mitbedenkt. Charles Lewinsky beschreibt anhand das Grunddilemma von Juden bis heute, und dem Autor gelingt das Kunststück, dies ohne moralistischen Unterton, ohne Schuldfragen und ohne erhobenen Zeigefinger zu tun, in einer Sprache gleichsam feinfühliger Lakonie – und das mag Leser besonders erschüttern oder beschämen.
Dilemma
Onkel Melnitz zeigt das Kerndilemma von Juden, das übrigens in dem Essay „Der jüdische Witz“ (Die andere Bibliothek)) präzise und mit empirischen Belegen dargestellt wird: Was immer Juden tun, ob sie sich „anpassen“, getragen von dem Wunsch nach Integration bzw. natürlichem Mitbürgertum, des sozusagen unauffälligen Mitlebens (Vorwurf: Maskerade), oder ob sie sich abkapseln (Vorwurf: Überheblichkeit) – sie werden als eine gefährliche Besonderheit wahrgenommen. Religion, Neid, der Verdacht nach Vorherrschaftsstreben schwingen gar aktuell noch immer mit, ebenso Erfindungen von Judenfeinden. Etwa dies: Onkel Melnitz: „….Sie vergessen nie etwas. Je unsinniger es ist, desto besser erinnern sie daran. Wie sie sich daran erinnern, dass wirkleine Kinder schächten, immer vor Pessach…..Es ist nie passiert, aber sie können euch noch fünfhundert Jahre später ganz genau erzählen, wie wir es gemacht haben….“ S. 101). Diese und diverse andere mentale Voreinstellungen werden in bestimmten Milieus immer wieder neu belebt oder lebendig gehalten, ergänzt um die Vermischung von Antisemitismus und Antiisraelismus, zuweilen in mächtiger Wucht (Demonstrationen, Vernichtungsaufrufe), zuweilen gerechtigkeitsideologisch verbrämt (BDS-Bewegung), zuweilen eingewoben in Fragen eines Rechts auf Vergessen, gegenwärtig thematisiert als Macht jüdischer Opfer über politische Entscheidungen, gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland, wo Juden von verschiedenen Seiten wieder hochgradig gefährdet sind und selbst Warnaufrufe zum Kippa-Tragen sich dem Verdacht nicht entziehen können, Jüdisches aus dem Alltagsleben fernhalten zu wollen. Ob „gut“ gemeint oder nicht. Onkel Melnitz wird noch immer gebraucht, und das ist bestürzend.
Judenfeindliches
Onkel Melnitz, der zwischen Sarkasmus und Ironie, zwischen Mahnung und Warnung, zwischen scharfer Kritik und Verbitterung im Wissen um die Unausweichlichkeit (das Dilemma) pendelt, verkörpert nicht nur das Gedächtnis vergangener, sondern auch gegenwärtiger Verfolgung, Ausgrenzung, die Erfahrung subtiler bis aggressiver antisemitischer Ausfälle und judenfeindlicher Gewalttaten. Neben dem erzählerischen Können, das die Lektüre auf literarischer Ebene zu einem Genuss macht, ist es die Aktualität judenfeindlicher, juden- und israelfeindlicher Gesinnung und Handlung, die die Lektüre so wertvoll machen. Diesem Roman ist seiner Neuausgabe erneut eine zahlreiche Leserschaft aus allen kulturellen Milieus zu wünschen, und Pädagogen könnten ihn als Schullektüre, als Vorlage für Theateraufführungen etc. nutzen, als Ausgangspunkt für Bemühungen, jüdisches Leben in Deutschland als selbstverständlich zu nehmen und damit jüdischen Mitbürgern endlich zu ermöglichen, frei von Furcht vor Diskriminierung und frei von Angst vor Bedrohung zu leben. Möge Onkel Melnitz endlich sterben dürfen. Dr. Regina Mahlmann Www.dr-mahlmann.de www.gabal.de