Mensch und Welt II, Vorlesung Universität Jena Sommersemester 2009
Autor | Welsch, Wolfgang |
Verlag | sonstige |
Es gehöre zum „Chromosomensatz der Philosophie“, über die Einzelwissenschaften hinaus „nach dem Ganzen“ zu fragen – und dies geschieht sowohl in Teil 1 als auch in Teil 2 der Vorlesung „Mensch und Welt“, deren Erkenntnis leitendes Fragepaar lautet: Wie versteht sich der Mensch, verstehen wir uns im Verhältnis zum Kosmos (Kongruenz, Disparität), und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für sämtliche Facetten unseres Denkens, unserer Lebensphilosophie und –führung – und, selbstverständlich, für alle wissenschaftlichen und nicht wissenschaftlichen Konzepte, die uns helfen sollen, zu verstehen, etwa: welche Wahrheitsentwürfe der jeweiligen Überzeugung folgen.
Die Frage, der Wolfgang Welsch in „rabiater Vereinfachung“ nachgeht: Welche Alternativen können wir denken und herleiten zu dem seit Diderot (1755) dominierenden „anthropischen“, anthropozentrischen Prinzip, nach dem der Mensch der Begriff sei, von dem alles auszugehen habe und auf den alles zurückzuführen sei (Diderot wird später, 1769, davon abrücken). Seit ihm und besonders differenziert ausgeführt seit Immanuel Kant gilt: Die menschliche Erkenntnisverfassung ist nicht überschreitbar – wir erkennen nur, was wir erkennen können – der Mensch fabriziert in diesem Sinn seine Welt (Produktionismus, Konstitutionalismus). Diese Auffassung dominiert die philosophische Diskussion, auch wenn es andere Ansätze zu Popularität gebracht haben, wie etwa der frühe Husserl, Heidegger und Merleau-Ponty.
Insbesondere der Logische Empirismus, die Analytische Philosophie, besonders der linguistic turn in der Analytischen Sprachphilosophie kehren zwangsläufig, denknotwendig zum anthropischen Prinzip, zur Dualität von Mensch und Welt zurück, obwohl vor allem die zwei erst genannten Richtungen angetreten waren, einen Realismus zu begründen, die Dualität aufzuheben. Wolfgang Welsch führt diesen Weg mit Bezügen zum Historismus, zu Kulturrelativität (Herder, von Ranke) aus und erläutert ausführlich die sprachwissenschaftliche Erstfundierung durch Sapir und seinen Schüler Whorf (Sapir-Whorf-Hypothese).
Erkenntnistheoretisch spannend verläuft die ausführliche Erörterung von Idealismus und Realismus, die Frage also, unter welchen Bedingungen der Mensch annehmen kann, einen direkten oder einen nur vermittelten Zugang zur Welt zu haben – und hier sollten all jene aufhorchen, die sich dem radikalen oder einem individuellen und/oder sozialen Konstruktivismus verschrieben haben. .
Die zweite CD widmet sich fast ausschließlich der Analytischen Philosophie, die um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert antrat, die Realismus-Idealismus-Debatte in die Irrelevanz zu eskamortieren. Dies- so Wolfgang Welsch – gelingt ihr so wenig wie allen Nachfolgern. Während der Logische Empirismus die Erkenntnisverfassung des Menschen zum Maß von Welterkenntnis macht und damit die Welt immer eine menschliche Welt bleibt, wird die Sprachphilosophie nach dem linguistic turn die Grundfigur beibehalten und Erkenntnisverfassung bzw. Bewusstseinsabhängigkeit von Weltzugang und –erfassung durch propositionale, durch menschliche Sprachfertigkeit ersetzen. (Argumentationen von G. Frege, Neurath, H.v.O. Quine, Putnam, Th. Nagel, D. Davidson, McDowel, I. Hacking werden – um einige bekanntere Namen zu nennen – werden von Wolfgang Welsch dekliniert.)
In noch einmal „brachialer Vereinfachung“: Wolfgang Welsch differenziert zwei idealistische Philosophiestränge, denen u.a. gemeinsam ist: das anthropische Prinzip, die Dualität von Mensch und Welt und das Überbrücken von Mensch zu Welt, diesen Übergang vom Menschen her und damit einseitig zu denken: via Erkenntnisverfassung bzw. via Sprache. Die frühe Analytische Philosophie fasst das Verhältnis in einer epistemischen Vermittlung: Welterfassung ist erkenntnisabhängig. Die Welt ist immer unsere Welt, sie ist durch menschliches Erkenntnisvermögen vermittelte Welt. Der Dualismus Mensch und Welt braucht ein interface, eine Vermittlung, und dies leistet Erkenntnisvermögen. Der linguistic turn in der Sprachphilosophie wirft Sprache als „Begriffsnetz“ (W. Welsch) aus und fängt unsere menschliche Welt, unsere Weltbezüge und deren Repräsentationen etc., linguistisch ein: Sprachliche, durch propositionale Sprache vermittelte Welt gilt als primäre Bedingung für, als originärer Vollzug für unseren Welt- und Gegenstandsbezug. Auch dieses Konzept bleibt der dualistischen Mensch-Welt-Beziehung treu, die rein epistemisch (nicht ontologisch) konzeptualisiert wird und den linguistischen Bezug als Primärbezug ausweist. Dieses Konzept interessiert sich nicht für Genese, für Entstehungsbedingungen für unser Weltverhältnis, sondern nur für Geltung und Weltzugang via Sprache.
Diese Vernachlässigung des vorsprachlichen, präverbalen Zugangs zu Welt, die vor- oder außersprachliche Welterfahrung (die wir als Babys und Kleinkinder bis zu etwa 3 Jahren haben), sowie das Momentum, dass unsere Sprache immer schon dual verfasst ist, weil sie Subjekt und Objekt, Mensch und Welt als getrennt voneinander grammatikalisch, strukturell einbaut – dies sind Hauptkritikpunkte von Welsch.
Das außer- und vorsprachliche Moment, die leiblich-sensualistische Welterfahrung zu Beginn unseres Lebens, in dem wir noch nicht über propositionale Sprachfertigkeit verfügen, verbindet Welsch mit evolutionärem Gedanken – angelehnt an Tomassello, dem Leipziger Primatenforscher: auch Tiere verfügen über angeborene, phylo- und ontogenetische Dispositionen, Welt nonverbal, nonlingual zu erfassen. Kleinkindforschung zeigt, dass bereits Babies im Alter von 3-4 Wochen über bestimmte Kategorien verfügen wie etwa über die der Permanenz von Gegenständen (ein Glas bleibt ein Glas – es bricht nicht auseinander, wenn es angefasst wird (Permanenz der Materie), und zudem Permanenz in der Zeit: Das Glas kommt wieder zum Vorschein, wenn man es von vorn hinter dem Rücken wieder nach vorn, zur Sichtbarkeit schwingt: Babies erwarten diese Zuverlässigkeit und sind überrascht, wenn diese Erwartung nicht erfüllt wird) – diese Diskussion, in der Vorsprachlichkeit, Leiblichkeit, Wahrnehmung im Mensch-Welt-Verhältnis zu Gunsten der Aufhebung des Dualismus von Mensch und Welt sowie das Verlassen des anthropischen Prinzips thematisiert werden, deutet Welsch leider am Schluss nur an – und verweist auf Sommersemester 2010 für eine Fortsetzung – hoffentlich also einen Teil 3 auch als Hör-CD. Der erste Hörer ist ihm gewiss – und ich wünsche auch dieser aufgezeichneten Vorlesung zahlreiche Hörer!
Neben dem Wissen, das Wolfgang Welsch vermittelt, motivieren zum Hören seine Differenzierungen und Kategorisierungen, die manchmal nur in Nebensätzen aufscheinen, etwa der Hinweis, dass in einer ontologischen Zugangsweise ein Sachverhalt sich so-und-so entfalte, in einer phänomenologischen indes anders. Sympathisch wirken zudem seine spontan belaufenen Nebenpfade und das zu hörende Schmunzeln, wenn er eine Kritik salopp formuliert.
Ein die Kaufempfehlung keinesfalls relativierender Hinweis: Auf CD 2 ist die Tonqualität zeitweise sehr sprunghaft. Weiteren Aufnahmen ist zu wünschen, dass sie kleinen Makel umgehen.
Dr. Regina Mahlmann
www.dr-mahlmann.de
drmahlmann@aol.com