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Merkel: Eine Kritische Bilanz

Autor Philip Plickert
Verlag Finanzbuch
ISBN 978 3 95972 065

Diesem Reader, in diesem Jahr erschienen und bereits in der 3. Auflage, hätte man gewünscht, angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl zumindest einige Monate eher erschienen zu sein. Er vereinigt kritische Betrachtungen zur Regierungszeit Angela Merkels und transportiert für jene, die den medial inszenierten Mythen und Fiktionen um die vermeintliche Rationalität der Bundeskanzlerin aufsitzen, die Chance auf Ernüchterung.

Dem Herausgeber dieses Readers, Philip Plickert, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Lehrbeauftragter an der den Universitäten Frankfurt und Siegen, ist daher zu danken. Er konnte renommierte Wissenschaftler, Journalisten und Publizisten mit kritisch-konstruktivem Geist, darunter auch Personen, die mit der Bundeskanzlerin näher in Kontakt standen, dafür gewinnen, jeweils einen thematischen Fokus anzuvisieren und kompetent zu auszuführen.

Das Spektrum der Beiträge deckt ab: die medial inszenierte Persönlichkeit der Kanzlerin; die Frage nach biographischen Prägungen mit Einfluss auf ihre Politik; die Suche nach dem Christlichen und Konservativen in der Politik der Kanzlerin; die Sozialdemokratisierung ebenso wie das Nachgeben grünhegemonialer Ansprüche und Sichtweisen, sowohl wirtschafts- als auch gesellschaftspolitisch; ferner Beiträge zu den Schlüsselgebieten: das Reagieren in der Eurokrise, die konzeptionslose Energiewende, die selbst herbeigeführte Flüchtlings-/Einwanderungskrise und das Versagen integrationspolitischer Ansprüche durch mangelnden Realitätssinn und Verantwortungslosigkeit; die defizitäre Systemsicht auf dem Feld der Außenpolitik, einschließlich Bundeswehr.

Die Beiträge beleuchten verschiedene Entscheidungen und politische Haltungen. Akzentuiert werden drei schwerwiegende und zukunftsweisende Fehlentscheidungen von Angela Merkel. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie emotional basiert und spontan, mit herrschaftlichem Gestus und macht-, parteipolitischer Binnenorientierung und jenseits des Bedenkens von Folgewirkungen, Gesetzesübertretungen inklusive, getroffen wurden: Eurokrise („kopflose“ Rettungspolitik in dramaturgischer Einbettung, die den Euro bzw. den (vorrübergehenden) Austritt Griechenlands zur Existenzfrage der Europäischen Union stilisierte), Energiewende (emotionale Entscheidung nach persönlicher Betroffenheitspsychologik, die eine distanzlose, politisch unprofessionelle, undurchdachte und grotesk fehlgeplante wie teure Entwicklung anbahnte, inklusiv abrupte Abwendung von Zusagen), Flüchtlingskrise (persönlich moralisch/ humanistisch motiviert, politisch undurchdacht – und mit der Arroganz, die Entschärfung sowohl anderen Ländern anzulasten als diese dafür teilweise zu kritisieren und die Erfolge als eigene Leistung einzuheimsen).

Diese Felder großpolitischer Fehlentscheidungen, die die Bundesrepublik, andere europäische sowie zunehmend außereuropäische Länder noch auf Jahre beschäftigen werden, sind dominanter Gegenstand der Beiträge. Ebenfalls als Schlüsselfeld, in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer weniger präsent, wird auch die visions-, strategie- und konzeptabstinente Außenpolitik, einschließlich der Bundeswehr, als Gebiet erkannt, auf dem die Ära Merkel fundamentale Defizite aufweist und auf die Taktik des muddling-through setzt.

Auch wenn die Kanzlerin sich im Verlauf ihrer Regierungszeit Personen entledigt hat, die ihr machtpolitisch gefährlich hätten werden können; auch wenn immer mehr erkannt wird, dass sie sich mit Jasagern umgibt und dazu neigt, zu dekretieren – um das zu ermöglichen, bedarf es eines personellen Umfeldes insouveräner, binnenpolitisch fixierter weiblicher und männlicher Politiker und Pressevertreter, die sich vornehmlich fügen, kritische und nicht-affirmative Stellungnahmen bestenfalls inoffiziell verlautbaren; sie können sich der Mitverantwortung für langfristig wirksame Fehlentscheidungen daher nicht entziehen. Dazu gehört auch das Versäumnis, eine Alternative zur erneuten Kanzlerkandidatur von Angela Merkel aufgebaut zu haben. (Aktuell bringen sich Ambitionierte selbst ins Spiel – allerdings nicht für die anstehende Bundestagswahl.)

Jeder Beitrag ist informativ, frei von Ressentiment, getragen von sachlichem Interesse (Analyse) und argumentativer Begründung der Kritik. Es geht nicht darum, die Bundeskanzlerin zu desavouieren, sondern zu demaskieren: Die Attribute der Mainstream-Publikationen und Inszenierungen kritisch zu prüfen, sowohl aus Binnenperspektive als auch aus der Perspektive ausländischer Presse und Politiker. Von der Charakteristik als nüchterne, rationale, überlegte und strategisch das Wohl der Bundesrepublik aufgleisende Politikerin bleibt nichts übrig. (Im selben Zuge muss die Qualifikation der politischen Mitstreiter diskutiert werden.) Zum Erscheinen kommt „ein Scheinriese, eine überschätze Politikerin, die sich mehrere gravierende Fehler zuschulden hat kommen lassen.“ Die aktuellen Interviews von Frau Merkel zeigen zudem, dass sie offenkundig trotz der desaströsen Folgen ihrer Schlüsselentscheidungen nichts dazu gelernt und der Narzissmus ein Ausmaß angenommen hat, das Selbstkritik verunmöglicht. Diesen Eindruck vermittelt sie selbst, etwa indem sie öffentlich beteuert, insbesondere die Entscheidung aus 2015 (Öffnung der Grenze für unkontrollierte Einwanderung) erneut so zu treffen, oder indem sie keine grundlegende Korrektur in Bezug auf die auch im Ausland mit Kopfschütteln kommentierte Energiewende für nötig hält, etc..

Dieser Band bestätigt jene, die seit Jahren die Merkel-Regierung mit skeptischer Haltung begleiten und sich dem medialen Mainstreamurteil entziehen. Der Band ist all jenen empfohlen, die dem (im Ausland bereits korrigierten) Märchen von der verantwortungsvollen, nüchtern-rationalen, weitsichtigen („Ich fahre auf Sicht“ – also nur wenige Meter weites Sehen) Kanzlerin glauben und nachsichtig sind mit sowohl dem gouvernementalen, herrschaftlichen Regierungsstil als auch mit der zunehmenden (z.T. Selbst-) Entmächtigung jener Akteure und Akteurgruppen, die nicht ihr Wohlgefallen finden.

Diesem aufklärerischen Band sind weiterhin unzählige Leser und Leserinnen zu wünschen.

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Regina Mahlmann