Moral: Welchen Ursprung hat unser Gut und Böse – Eine Streitschrift
Autor | Friedrich Wilhelm Nietzsche |
Verlag | Input |
ISBN | 978-3-941-90556-6 |
Dass in der Reihe „Perlen der Literatur“ als Band 22 ein Text von Friedrich W. Nietzsche erscheint, ist überraschend für jene, die in der Reihe ausgewählte „Perlen“ in Form von Romanen, Novellen, Erzählungen, Poesie kennengelernt haben. Die Begründung formuliert Elmar Dod im Vorwort. Sie bezieht sich vorzugsweise auf die Deutung des Radikalen, des Befreienden („Umwertung aller Werte“) der Streitschrift, weniger auf das Literarische, dass allerdings ebenfalls hervorgehoben wird: die Rhetorik und Aphoristik Nietzsches, die von Beginn an bei Literaturliebhabern mit Begeisterung aufgenommen wurde und wird, als eine besonders bewegende empfunden.
Legt man in der Lektüre den Fokus in erster Linie auf die „Wahrheit“ Nietzsches psychologischer, psycho-historischer und philologischer Herleitung der Notwendigkeit der Umwertung von Werten, besonders des Wertkomplexes „gut sein“, wird man weitere Herangehensweisen hinzuziehen müssen (mehrdisziplinäre Betrachtung), um die Frage umfassender zu beantworten, was „gut“ und „böse“ oder „schlecht“ meinen. Und man wird in Debatten hineinschlittern, die sich darum drehen, was als wahr gilt und welche Deutung nicht. Philosophen kreisen seit Beginn des grundsätzlichen Nachdenkens über die Stellung des Menschen im Kosmos (!) um diese Frage, gefolgt von einzelnen Disziplinen in den Kulturwissenschaften, inklusiv evolutionsbiologischer Herleitungen, wie und warum Moral in der Evolution des Menschen entstand.
Eine andere Lesart der Streitschrift verspricht mehr Denkvergnügen, ganz im Sinn Nietzsches Plädoyer vom „täglich einen Gedanken neu denken“ und vom Umwerten von Werten (und Paradigmen). Diese Lesart hebt insbesondere den utilitaristischen und sozialkritischen Faden Nietzsches auf und thematisiert die Dialektik in Semantik/Bedeutung sowie Pragmatik/ Anwendung, immer schon mit. Diese Lesart fragt z.B. nach der impliziten Hierarchie von Gutsein, Güte bis hin zu Mitleid, Empathie, nach der Nützlichkeit für wen, bezogen auf beide Seiten: Die eine, die gebende, hebt ihr Selbstwertgefühl und nährt und stabilisiert ihre Macht, die andere, die Nehmende, entfaltet die Macht der vermeintlichen Opfer bis hin zur Machtakkumulation und Deutungshoheit über die Bewertung praktischen Gutseins.
Das Bemerkenswerte: Bereits Nietzsche erkannte, dass die herkömmliche Bedeutungsfolie von Gutsein/ Empathie eine spezielle Etikettierung befördert: die Nehmenden betrachten die Gebenden zunehmend als mehr oder weniger nützliche Dummköpfe und übernehmen die Deutungsmacht via moralistischer Intonationen, Appelle, Beurteilungen, kurz: via neuer Normierung von Lebenspraktiken. Auf diese Weise gelingt eine Umwertung des Wertes Gutsein/ Empathie und konstelliert die Machthierarchie, das Diktatmonopol neu. Eben dies ist hochaktuell mit Blick auf gesellschaftspolitische Gestaltungsentscheidungen, siehe Begründungen und Reframing, beispielsweise im Umkreis Identitätspolitik.
In den letzten Jahren wurde durchaus das „Dunkle“, das „Böse“, Nachteilige bis Gefährliche von Gutsein, Empathie fachkundig eingekreist. Das änderte zwar nichts an der Dominanz der Deutung von „Empathie = gut = erstrebenswert = vorbildlich“.
Vielleicht indes kann eine selbst kursorische Lektüre dieser Streitschrift zu Ernüchterung beitragen, dazu, zu erkennen, dass Empathie, das Gefühlige, das mehr oder weniger selbstgefällig Gute einen Verblendungszusammenhang begünstigt, der weitere Missstände gebiert, subjektiv und über den Einzelnen hinaus – und auch aus dieser Warte eine Umwertung, Umdeutung, eine Neubestimmung und sei es nur: Ergänzung um das Moment des Nützlichen, des Zweckmäßigen, des Funktionalen. Dank Vor- und Nachwort, dank zudem skizzierter redaktioneller Eingriffe, dank hilfreicher Kommentare, Erläuterungen, Verweise gibt Dr. Elmar Dod dem Leser im Kosmos von Nietzsches Werk und Leben Orientierung in leserfreundlich gestalteten Fußnoten. Rez. Dr. Regina Mahlmann www.dr-mahlmann.de www.gabal.de