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Motherless Brooklyn

Autor Jonathan Lethem
Verlag Tropen
ISBN 978-3-608-50389-0

„Verfilmung von und mit Edward Norton und Willem Dafoe, Bruce Willis und Alec Baldwin!“ ist der Roman zum Film mit spannender wie unterhaltsamer Lokalkrimi-Handlung auf nahezu 400 Seiten.

Tourette und so
..ist, was den Ich-Erzähler ausmacht, der alle seine Tics dokumentiert, im Handeln und Sprechen: „Ein ermordeter Mafioso mit großem Herz und großer Klappe. Ein kleiner Gangster mit Tourette-Syndrom auf der Spur des Verbrechens. Messerscharfe Dialoge und grandioser Sprachwitz vor der Kulisse der Unterwelt Brooklyns.“ Und bis zum Beginn der eigentlichen Geschichte meist in der Bibliothek des Waisenhauses verkrochen, wo ihn seine Tics ziemlich in Ruhe ließen: „Ich nahm mir vor, jedes Buch dieser gruftartigen Bibliothek zu lesen… ein Merkmal meiner tiefgründigen Angst und Langeweils…, ein frühes Anzeichen meiner durch Tourette bedingten Zwanghaftigkeit, was Zählen, Untersuchen und Ordnen anbelangte.“ (S. 51 – viele Beispiele für seine Tics im Verlauf der Story, etwa S. 149f. oder S. 222 zu Verschwörungstheorien als eine Variante – oder Don Martins MAD-Comis als von ihm wieder erkannte potenzielle Quelle S. 277.) Koprolalie tritt bei Lionel stark auf, also das Beschimpfen anderer mit obszönen Begriffen, sonst bei Betroffenen eher selten (ca. bei 1/3 lt. Google-Treffern). Apropos Lionel – „witzig“, dass Essrog ausgerechnet diesen Vornamen hat (meist allerdings Freak genannt, aus erkennbaren Gründen):

… auch mit sprachlichen Tics!
Hat mich an Lionel Logue erinnert, der King George VI. als Sprachtherapeut geholfen hat, sein Stottern zumindest zeitweise in den Griff zu kriegen. Und Tourette scheint mir eine andere Art von Stottern zu sein, meist als haptisch-kinästhetisches Handeln. Zurück zum Sprechen, konkret beim „hiesigen“ Lionel: „In der Zwischenzeit kam unterhalb der Eisdecke ein Meer aus Sprache zum Siedepunkt. Es wurde immer schwieriger zu leugnen, dass mein Gehirn auf einen Satz auf dem Werbefernsehen wie „Hält bis ands Ende Ihres Lebens“ im Stillen unweigerlich mit „Endet am Hals Ihrer Leber“ reagierte…“ (S. 63), was diesen verbalen Spontan-Tick ausgesprochen plastisch beschreibt. (PS: Erinnert mich an manch spontan-automatisches Assoziieren bei mir – und an eine frühe Tendenz bei mir, anderen Schimpfwörter an den Kopf zu werfen, was ich dann erst im Nachhinein erkannte…) „Ich“ erzählt in Bruchstücken, auch in Jetzt-Zeit und früherem Geschehen abwechselnd – und die eigene Situation reflektierend, etwa seinen Umgang mit seiner Zwangsstörung (die mich übrigens auch an Monk erinnert hat  …), siehe etwa S. 108f. zum Kontextualiseren = zumindest zeitweise in den Griff Kriegen. Bei Krankheiten (auch und gerade psychischen) stellt sich wohl immer die Frage nach dem evolutionären Vorteil, sonst wäre sie ausgestorben: Schnelleres Reagieren zählt offenbar dazu – ich war mal Torwart, Fuß- und Handball  – und Lionel wird unterschätzt plus findet die „Lösung“ auch durch seine Echolalie… Doch genug von Tourette-Tics …

Lokales Geschehen
Das ist die Geschichte, mit viel Sympathie für diesen New Yorker Ortsteil erzählt: „Das Waisenhaus St. Vincents in Brooklyn, frühe siebziger Jahre. Für Lionel Essrog, der am Tourette-Syndrom leidet, ist Frank Minna so etwas wie ein Erlöser. Der im ganzen Viertel beliebte Ganove taucht eines Tages auf und nimmt Lionel und drei weitere Jungs mit auf seine mysteriösen Streifzüge quer durch Brooklyn. Aus den vier Waisen werden so die Minna Men, die von Detektei bis Fahrdiensten alles anbieten. Ihre Tage und Nächte drehen sich um Frank, den Prinzen von Brooklyn, der mit großer Klappe durchs Leben eilt. Dann kommt die furchtbare Nacht, in der Frank niedergestochen wird und Lionel auf sich selbst gestellt ist. Auf der Suche nach Franks Mörder verstrickt er sich tiefer und tiefer in Brooklyns Unterwelt und die geheimen und unüberschaubaren Gesetze dieses Viertels, in dem niemand ist, was er zu sein scheint.“ Spannend und sprachlich verspielt beschrieben! HPR www.dialogprofi.de www.gabal.de

Hanspeter Reiter