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Mythos Lesen

Autor Klaus Benesch
Verlag transcript
ISBN 978-3-837-65655-8

Der Autor, Professor für Nordamerikastudien an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ehemaliger Direktor der Bayerischen Amerika-Akademie, München (2006-2013) und Mitherausgeber der Reihe „Wie wir lesen – zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik“ (auf 10 Bände angelegt) weiß, wovon er wie schreibt. Er umkreist in seinem Essay das für die Geisteswissenschaften zum Problem gewordene Lesen (S.9) und möchte den „Mythos“ der notwendigen Verbindung von „Buchkultur“ und Geisteswissenschaften einer kritischen Bestandsaufnahme unterziehen. Er skizziert die Entwicklung zu einem erweiterten Lese- sowie Textbegriff. Beides möchte er nicht auf Lektüre von geschriebenen Worten begrenzt wissen (etwa S. 28). Zudem möchte er ein weiteres Thema mitbehandeln, nämlich Antworten darauf finden, welche Optionen zu nutzen seien, um Leseunlust zu dämpfen und Leselust zu fördern.

Dies alles weniger wissenschaftlich als pointiert argumentierend und in „rhetorisch zugespitzter Essayistik“ (ebd.), popkulturell anmutende Formulierungen eingeschlossen. Insofern liest sich der Beitrag zur Zukunft des Lesens (v.a. in den Geisteswissenschaften) flüssig und zuweilen unterhaltsam. (Wenngleich man sich daran stören kann, dass er „generisch weibliche Nominalformen verwendet“ (ebd.) mit der Behauptung, „dass das Anliegen, das sich damit verbindet, diesen Nachteil (weniger geschmeidige Lektüre, RM) aufwiegt“; Ausnahme: Zitate von männlichen Autoren. Nun ja.)

Zuweilen wäre der Leser um mehr begriffliche Präzision dankbar. Das beginnt bereits bei der Frage, welche Wissenschaften der Autor zu den Geisteswissenschaften zählt und inwiefern er stets alle Disziplinen mitmeint. Expressis verbis kommen vor Germanistik, Literatur-, Kunstwissenschaften – bis hin zur kompletten Öffnung für Film-, Kultur-, Ethno-, Sozialwissenschaften, während Philosophie, Philologie, Mathematik, um nur diese genuin geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu nennen, kaum bis keine Erwähnung finden. Die mangelnde Präzision bzw. die Erweiterung ist Programm auf dem Weg zur Abschaffung des Mythos, dem Junktim von Buchkultur und Geisteswissenschaften, und mündet in ein Plädoyer für (in den USA begründeten) „public humanities“ – , kombiniert mit der Erweiterung des „Lesens“, bezüglich des Begriffs (Lesen nicht nur von Schrift), der Quellengattungen sowie bezüglich Nicht-Buch- und Nicht-Wortsprach-Medien, die programmatisch einbezogen werden sollten in geisteswissenschaftliche Curricula (S. 79). Wer kommentiert, dass es solchartige Praktiken bereits gebe, könnte als Antwort den Hinweis erhalten, dass dies noch unsystematisch geschehe und noch im Dunstkreis des Mythos.

Der Essay ist dort instruktiv, wo es um historische Entwicklungen, um die „turns“, die paradigmatischen Wenden geht; mit Gewinn zu lesen unabhängig davon, inwiefern man die kapitalismuskritischen, ökonomistisch-tiefenpsychologisch eingefärbten Einbettungen plausibel findet.

Der Autor sieht die Tradition, das Junktim, im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts begründet: das Gespann von Buch und Lesen, verlängert in dasjenige von Buchkultur und Geisteswissenschaften. Anhand von turns in den Literaturwissenschaften bereitet er seine Schlussfolgerung vor. Die eingebetteten turns in Stichworten: close reading: Nahelesen, Tiefenlesen: „Tiefenstrukturen eines Textes“ offenlegen (34) versus bad reading. Die Methode des Nahelesens fand in den USA Verbreitung: New Criticism oder New Critics bis in 1960er Jahre; New Criticis legt den Fokus „auf die textimmanenten Aspekte“, wurde von Dichtung auf „literarische Kunstwerke insgesamt“ ausgedehnt und konzentrierte sich ausschließlich auf das „sprachliche Kunstwerk als alleinige Grundlage literaturwissenschaftlicher Betrachtung“ (35). Folglich wurden Rahmenbedingungen (Entstehungs-, Verwendungszusammenhang), also externe Faktoren wie soziopolitische, soziokulturelle Rahmenbedingungen ebenso ausgeschlossen wie Fragen nach Autorenintention, Aspekte von „Einfühlung und Identifikation mit dem Text“ (ebd.). Dekonstruktivismus und Poststrukturalismus wurden „die Totengräber literaturgeschichtlicher Anthologie und Überblicksdarstellungen“ (49); sie lösten einen „Paradigmenwechsel“ aus: „Selbstreferenzialität und Autonomie sprachlicher Kunstwerke“ ließen sowohl die „Einteilung literarischer Werke nach Epochen“ als auch ein hermeneutisches Verfahren unberücksichtigt, das biographische und historische Einflüsse einbezieht in die Werkinterpretation. Dies vor dem Hintergrund, dass das neue Grundmuster ausschloss, „Kunstwerke zeichneten sich durch eine eindeutig beschreibbare, in ihnen organisch verschlüsselte Bedeutung aus, die es dann zu entziffern bzw. herauszulesen“ gelte (49). Sprache galt als immanent und a priori mehrdeutig, erlaube „keine endgültigen Bedeutungszuweisen und allgemeingültigen Aussagen über Gehalt des Dargestellten“ wie „der Darstellung selbst“(49); die Figur des Rhizoms illustriert diese Vorstellung zwar permanenter, aber nicht endgültig identifizierbarer Bedeutungsgenese. Die Erwähnung von Kunstwerken verweist zudem darauf, dass nicht mehr nur sprachlich codierte Textsorten als Texte galten.

Die „gegenkulturellen Bewegungen der 1960er und 1970er“ kritisierten das close reading/ New Critics als elitär und widersprachen der Grundannahme, Texte ließen sich unabhängig von ihrer emotionalen, biographischen, ihrer gesellschaftlichen Einbettung verstehen, sondern seien lediglich eine kulturelle Ausdrucksform sozialer Realität neben anderen („Medienökologie“). Das Close Reading wurde ersetzt durch „psychologisierende, dekonstruktionistische oder neuhistorische Ansätze“ ; das Narrative, Narration gewann an Bedeutung (36).

Mit zunehmender Digitalisierung von Lebenswelten und damit verknüpften unerwünschten Lese-, Lernwirkungen bahnte sich das Aufleben des Konzepts des tiefen Lesens an (s.o.), zunächst im Zeichen der Pole digital-analog. Gleichzeitig verschärfte sich die „Identitätskrise der Geisteswissenschaften, die sich zunehmend der Frage nach der Relevanz ihres Gegenstands und der Wissenschaftlichkeit ihrer Methoden ausgesetzt sehen.“ (37).

Es folgte die Geburt des „ethischen Lesens“, inspiriert durch Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“(48ff), nach der Kunst/ Literatur als „Symbol von Moral“ gelten und ihnen moralisch-erzieherisches Potenzial zugeeignet wird. Dieses Potenzial betonen auch gegenwärtige Verteidiger der Kombination von Analoglektüre, Schreiben, Lernen bzw. Bildung, auch, mit Goethe, als Wachstum oder Reifung, Bildung der Persönlichkeit. Voraussetzung für die Einlösung dieses Potenzials ist das tiefe Lesen, ein Lesen, in dem mitgedacht, assoziiert, an das gedanklich angeknüpft wird (siehe z.B. Maryanne Wolf (2009) und neurowissenschaftliche Literatur zu Lese-Lernforschung). Dieser Aspekt bleibt unterbelichtet. Der Leitgedanke des ethischen Lesens muss konsequenterweise herausstellen, dass sich nicht jede Literaturgattung zur Bildung eignet, sondern insbesondere jene, die als bildungsbürgerlich wertvoll oder moralisch erhebend betrachtet wird. Allerdings versäumt der Autor, darauf hinzuweisen, dass es um zweierlei geht und damit um differenzierte Empfehlungen. Für das Lesenlernen (Lernen, flüssig zu lesen), betonen Fachleute, ist es unerheblich, welche Literatur gelesen wird. Für geistige Bildung und Bildung der Persönlichkeit gilt das nicht ohne weiteres bzw. verlangt, je nach Lektüregattung, Stil etc. sowie Immersionserfahrung mehr oder weniger eine Metabetrachtung. Die klassische Frage: Was kann ich daraus lernen?

„Nach dem linguistic turn, dem narrative turn, dem mythical turn, dem ethical turn und dem visual turn sind die Geisteswissenschaften endgültig an der Wende zur Kultur angekommen.“ (58), dem cultural turn. Der den Kulturwissenschaften entlehnte Begriff Kultur erweiterte den Zuständigkeitsraum auf die Gesamtheit sozio-kultureller Phänomene, auf alles, was Menschen erzeugen, sowohl materiell als auch immateriell, auf sämtliche ungeschriebenen und geschriebenen, auf bewusste wie nichtbewusste Normen und Regeln, auf Ideologeme, Meme etc. des Zusammenlebens. Folglich vervielfältigten sich Textsorten, Medien sowie Herangehensweisen an Texte, „Lesarten“, Deutungsräume. Es leuchtet unmittelbar ein, dass sich die Geistes- bzw. Literaturwissenschaften mit ihren soft methodologies der Kritik der Beliebigkeit stellen mussten und müssen (62ff). Die Buchkultur ist davon unmittelbar betroffen, weil nun – gemäß der Bedeutungsveränderung von Lesen – sämtliche in einer Gegenwart relevanten Medien und ihrer „Produktionsbedingungen“ (68 ) Einzug erhalten.

Geisteswissenschaften haben sich, so der Autor, in eine „Universalwissenschaft rückverwandelt“ (64), da „alles gelesen werden kann und die ganze Welt zum Auslegungsobjekt“ mutiert (ebd.). Zudem werde nicht mehr für Bildungszwecke gelesen, sondern zum Zweck der Offenlegung gesellschaftlicher Produktionsmilieus – der Text trete hinter seine Entstehungsbedingungen zurück (ebd.). Abgesehen davon, dass es für eine Universalwissenschaft an weiteren Disziplinen mangelt, muss man hinzufügen: durch die exorbitante Ausdehnung des Geltungshorizontes unter Einverleibung insbesondere sozialwissenschaftlicher Disziplinen.

Im Verbund mit der Digitalisierung individueller Lebensführung (denn lesen muss noch jeder selbst) in einem digitalisierten Umfeld ist es kein Wunder, dass sich Lesen mehr an der Oberfläche bewegt, schnell, auf Schlüsselworte aus, kursorisch, flüchtig: vom deep reading zum hyper reading. Dazu bietet die aktuelle Leseforschung höchst interessantes Material.

An diese Entwicklung knüpft der Autor seine Schlussfolgerung, die er im abschließenden Kapitel bereits im Titel kundtut: „Reading Proust on My Cellphone“ (69ff). Zum einen geht es um das Sowohl-Als-auch von Buch/ Analoglektüre und digtalen bzw. allen anderen Medien, zum anderen darum, den Ansatz der public humanities in den Geisteswissenschaften fruchtbar zu machen, „dem Abgleich mit den Bedürfnissen und Erwartungen einer größeren Öffentlichkeit“, der „Amalgamierung von öffentlichem und akademischem Raum“: Anschlussfähigkeit zu bieten (79) sowie um den systematischen Einbezug aller vorhandenen
Medien, Formate, Gattungen wie Film, YouTube-Clips, Browsen ebenso wie Traditionelles, etwa Museen, Kunsthäuser, Musik.

Die Argumentationen in den kundigen Skizzen überzeugen freilich nicht jeden, ganz unabhängig von der Schlussfolgerung. Sie leiden streckenweise unter begrifflichen Unschärfen, Hypothesen oder Deutungen erscheinen als Sachverhalte, Tatsachen; da wird behauptet statt begründet, oder neueste Ergebnisse aus empirischer Lese- und Lernforschung vernachlässigt, die Literarität thematisieren und damit die Verbindung von Schrift (Schreiben, Lesen) und kognitiver Verarbeitung von Inhalten in Abhängigkeit von der Präsentation: analog bzw. digital, Kombinationen beider, Verbindung von Wort, Bild, Film etc.; etwa Forschungsergebnisse zum multimedialen Lernen. In diesen Forschungen dominiert die Betrachtung des Andersseins, der Unterschiedlichkeit, „wie“ medienabhängig gelesen wird und mit welchen Effekten. Empfohlen wird ein Sowohl-Als-auch unter Einhaltung bestimmter Bedingungen. Sodann wird von der Unterschiedlichkeit von Effekten des Lesens gesprochen und daher das Lesen von Textsorten und -arten in Relation zu den gewünschten Ergebnissen erforscht, also die Funktionalität.

Das Entweder-Oder, das der Autor einerseits strapaziert, andererseits als eher rhetorische Figur bemüht, ist jedenfalls überholt, ebenso das mythologische Junktim. Inwiefern die Verwandlung zu einer Universalwissenschaft stattgefunden hat (Zweifel drängen sich auf), die Frage, ob das überhaupt nötig ist, um dem Wunsch nach medialer Öffnung und Anwendung eines erweiterten Lesebegriffs nachzukommen, und inwiefern sich, angenommen, die Geisteswissenschaften gälten als Universalwissenschaft, sich damit einen Gefallen täten (Stichworte: Überschätzung angesichts von Komplexität, Methodenwillkür, Beliebigkeit in Interpretationen, normativer Bias, Anfälligkeit für Ideologien und vermeintlichen Zeitgeist) oder gar einen Relevanzgewinn verbuchen könnten, wäre wert, debattiert zu werden – und zwar unter Einbezug aktueller Phänomene rund um identitätspolitische Strömungen in Kultur-, Geistes-, Sozialwissenschaften und Öffentlichkeit, Politik, unter Einbezug auch der Kategorie und Praxis von Safe Spaces, Cancel Culture – realen Phänomenen mit brisanter politischer und gesellschaftlicher Auswirkung, denen der Autor erstaunlicherweise keine weitere Bedeutung in Wissenschaft und Politik zuerkennt, obgleich er Politisierung und Radikalisierung durchaus thematisiert (76).

Ein lesenswerter Essay, der nicht nur informiert, sondern dazu herausfordert, über Lesen und Literarität in Gegenwart und naher Zukunft einer digital durchdrungenen Welt nachzudenken – im Geist der Aufklärung und der Frage nach Bedingungen der Möglichkeit einer Demokratie mit mündigen Bürgern.

Regina Mahlmann