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Raubtier Mensche

Autor John Gray
Verlag Klett-Cotta
ISBN 978-3-6008-94884-4

„Die Illusion des Fortschritts“ diskutiert der Autor ein wenig anders als von mir erwartet: eher filosofisch-soziologisch denn biologisch-naturwissenschaftlich (verursacht wohl auch durch die Cover-Abb., ein weit aufgeklappter Reptilien-Kiefer …) – was dem Lese-Gewinn kaum Abbruch tut, im Gegenteil. Denn statt eine Mensch-Tier-Differenz zu konstatieren, belässt Gray der Gattung „Mensch“ ihre Herkunft und befasst sich mit dem Allzu-Menschlichen. Da geht es um die Sprache plus Ich-Gefühl in Literatur und Philosophie und Psychologie (s. 132ff. „Gottloser Mystizismus“), um Nationalsozialismus und deren bewusst gesetzte „Zitate“ aus Psychologie, Philosophie und Kunst (z.B. S. 109ff.) – und ums Umgehen von derlei Protagonisten zu Lebzeiten mit Aufkommen und Erleben, Mitgehen: „Wie Jung konstatierte auch Freud, Europa sei während der Zwischenkriegszeit in eine Massenpsychose versunken, hieß jedoch – anders als Jung – diese Entwicklung niemals willkommen.“ (S. 113) Vielseitige Blickwinkel lässt der Autor seine Leser einnehmen, betrachtet auch und gerade die Jetztzeit, etwa im Kapitel „Die Finanzalchemisten“ (S. 67ff.), inkl. Griechenland-Krise [&] Co., allerdings die Perspektive deutlich erweiternd und einen Blick in die Geschichte wagend (S. 70f.): „Im weiteren Verlauf des Crashs wurde die Passivität, die seine frühen Phasen begleitete, durch Widerstand abgelöst … Das frühe 21. Jahrhundert wurde mit den 1930er Jahren verglichen, und es gibt tatsächlich Ähnlichkeiten. In beiden Epochen vollzogen sich globale Umbrüche … In beiden Fällen konnte man schon vorher wissen, dass Europa in einem zerstörerischen Konflikt versinken wurde … Wie damals in den 1930er Jahren … werden auch heute Minderheiten als Sündenböcke ins Visier genommen … Die heutige Krise … steht im Zusammenhang mit dem Fortschrittsglauben, der davon ausgeht, kein Menschheitsproblem sei langfristig unlösbar.“ Und doch zitiert er auch das Besondere im Menschen, etwa (S. 149ff.) „Das Schweigen der Tiere“: „Das Streben nach Stille ist anscheinend eine dem Menschen eigene Aktivität.“ (sic!) Und weiter (S. 152): „Leigh Fermor hätte wohl zugestimmt, dass in den trostlosen Überresten ehemaliger Klöster eine andere Art von Stille herrscht als in noch genutzten Gotteshäusern … Wenn die Stille nicht mehr gepflegt wird, liegt dies daran, dass das Eingestehen dieses Bedürfnisses bedeuten würde, die eigene innere Ruhelosigkeit zu akzeptieren…“, womit wir übrigens beim Weiterbildungs-Thema „Achtsamkeit“ angelangt sind J … Anstöße sind laufend geboten, gelegentlich provokant – oder schlicht nach Reflexion heischend, siehe S. 181: „Die Welt, in der ein Mensch sein alltägliches Leben verbringt, sich sich aus Gewohnheit und Erinnerung zusammen. Die gefährlichen Bereiche sind jene Zeiten, wenn das Selbst … zurückweicht oder sich auflöst.“ Und sehr schön schließlich zum Ende hin: „Wenn der menschliche Geist jemals von den Mythen befreit werden kann, dann nicht durch Wissenschaft und noch weniger durch die Philosophie, sondern nur in Momenten der Kontemplation, der inneren Einkehr.“ (S. 192, wieder mit Zitaten aus der Literatur, wie häufig in diesem Band). Und wenn ich mir vorher angeschaut hätte, wer dieser Autor eigentlich ist (Professor für Europäische Ideengeschichte …), wäre meine Erwartung wohl eine treffendere gewesen J – und auch dies hülfe: „Die Moderne erzählt sich selbst ihre Geschichte immer wieder: Seit die Religion überwunden ist, glaubt die angeblich aufgeklärte, humane, liberale Menschheit an den Fortschritt. Sie glaubt an Veränderung, an ihre Vervollkommnung und ihre Güte. Mit dem Aufkommen der modernen Wissenschaft weitete sich der Blick – eine Verbesserung schien jederzeit möglich. Das wachsende Wissen ermöglichte es dem Menschen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, so das Credo des liberalen Humanismus. Ihn und alle Fortschrittsphantasien unterzieht John Gray in seiner Tour d´Horizon einer grandiosen wie vernichtenden Kritik.“ (Klappentext) Übrigens gibt es vom Autor bereits den Vorläufer „Von Menschen und anderen Tieren – Abschied vom Humanismus“, evt. auch interessant?! HPR

Hanspeter Reiter