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Schnelles Denken, Langsames Denken

Autor Kahneman, Daniel
Verlag Siedler, 2012
ISBN 978 3 88680 886 1

Das Buch des Nobelpreisträgers ist dem verstorbenen Freund gewidmet, Amos Tversky, mit dem Daniel Kahneman 2002 den Preis entgegennahm und mit dem ihn eine persönliche und eine kritisch-konstruktive Forschungs-Freundschaft verbindet. Beide Aspekte dieser außergewöhnlich produktiven und offenkundig auch humorvollen Beziehung findet der Leser auf fast jeder Seite des 621-Seitenbuches (inklusiv Personen- und Sachregister). 

In einigen mir bekannten Rezensionen wurde das Buch sinngemäß und völlig zu Recht quasi als Lexikon bzw. eine Enyklopädie der möglichen emotiven, intuitiven und kognitiven Irrtümer betrachtet, bereichert um Hinweise darauf, wie Menschen ihnen – wenn schon nicht entrinnen – so doch immerhin Anzahl und Gewicht verringern können und belegt mit Quellen.  

Das Buch wurde zudem als „Grundlagenwerk“ für die Verhaltensökonomik bezeichnet. Zweifellos gilt das in Kombination mit anderen, sich fundamentalen Annahmen widmenden und diese empirisch überprüfenden Werken anderer Verhaltensökonomen.  

Allerdings führt der Autor seine Erörterungen nicht auf ökonomische Fragen eng, sondern dokumentiert Irrtümer, Fehlschlüsse und ihre Herleitungen a) grundsätzlich auf Menschen bezogen (allgemeinpsychologisch), b) zuweilen individualisiert auf Charaktertypen bezogen (eher differenzpsychologisch) und c) wendet Ergebnisse von Experimenten auf unterschiedliche Felder menschlichen Lebens an, also auch auf Alltägliches, auf Politisches und Soziales. 

Überhaupt: Experimente und Übungen, die den Leser erfahren lassen, wie rasch er selbst in Denkfallen tappst. In lockerem Ton und eingebettet in biographische Episoden reiht Daniel Kahneman ein Experiment an das andere und streut zahlreiche Übungen ein. Die Quelle, aus der er schöpft, scheint nicht zu versiegen. Das ist anschaulich und für jene lebendig, die es gern konkret haben, zuweilen aber auch ermüdend – zumindest für Leser, die eher deduktiv denken und an – später zu belegenden oder zu widerlegenden – Thesen interessiert sind. Diese sowie Schlussfolgerungen und nicht nur Konzeptionelles, sondern Theoriefacetten muss sich der Leser zuweilen selbst basteln (was die Aufmerksamkeit hoch hält!) oder/und im Text – zuweilen an überraschender Stelle – entdecken. 

Weniger berichtet wird auch über die Metaphern, die Daniel Kahneman nutzt, um das schnelle und langsame Denken anschaulich zu machen. Er spricht von System 1 (schnelles, intuitives, automatisches „Denken“) und System 2 (langsames, prüfendes, bewusstes, reflektierendes Denken). Die definitorischen Merkmale zu bündeln, lohnt; denn beide Systeme sind in sich vielfältig; nicht immer ist die Schilderung präzise, Überlappungen an semantischen Rändern sind möglich. Die Differenzierung in 2 Systeme (die, wie der Autor betont, reine Metaphern sind) bietet zumal dann Stoff für lehrreiche Debatte, wenn ihre Verbindung zu den „zwei Selbsten“ hergestellt wird.  

Wohl tut, dass der Autor nicht das Hohelied der Intuition singt (wie etwa sein Kollege Gerd Gigerenzer), sondern sehr differenziert beschreibt, wo System 1 vorteilig, wo nachteilig ist – und wie es System 2 austricksen kann. Die Macht von System 1 kann System 2 nur dadurch begrenzen (nicht überwinden), indem der Mensch immer wieder bewusst sich entschließt, ersten Gedanken und Impulsen nicht handelnd nachzugehen, sondern einen Schritt zurück geht, um aus der Distanz zu schauen. Immer wieder hebt Daniel Kahneman hervor, dass Menschen Verzerrungen nicht komplett verhindern können, es aber doch via Intention die Option gibt, sie zu minimieren und ihr Gewicht zu schmälern. Die intentionale Entscheidung betrifft vor allem Kriterien für das Anschalten des reflexiven Selbst und Systems: Themen, Kontexte, Ziele.

 

Aufmerksames und ein Lesen mit Stift in der Hand empfiehlt sich auch dort, wo der Nobelpreisträger begriffliche Unterscheidungen macht. So etwa zu „rational“ und „vernünftig“ im Vergleich zum Gebrauch bei Ökonomen und im Alltag (S. 514ff) oder der Hinweis, warum Organisationen größere Chancen haben, impulsivem Denken und Handeln weniger zu unterliegen als Individuen. Auch weist er hin auf die Revisionen, die die ursprüngliche Erwartungstheorie inzwischen durchlaufen hat und was neu an der „neuen Erwartungstheorie“, verbunden mit Vorschlägen zu ungewohnten Weisen, Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen.  

Zur Gliederung: Einer ausführlichen Einleitung, die die „Neue Erwartungstheorie“ (die „alte“, zusammen mit Amos Tversky formulierte und preisgekrönte von 1979 findet sich im Anhang) in heutige Forschungen einbettet, folgen fünf Teile (Zwei Systeme, Heuristiken und kognitive Verzerrungen, Selbstüberschätzung, Entscheidungen, Zwei Selbste), die je wieder in Kapitel untergliedert sind. 

Kein Zweifel: Nicht nur verhaltensökonomisch Interessierte sollten diesem Werk einen Platz in Ihrem Bücherregal reservieren, sondern alle Professionellen, die beratend mit Menschen arbeiten. Dazu gehören nicht nur Berater, Trainer und Coaches in der Wirtschaft, sondern auch Psychotherapeuten, Psychologen und Pädagogen. 

Hanspeter Reiter, www.dialogprofi.de

 

Hanspeter Reiter