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Schüchtern

Autor Florian Werner
Verlag Nagel & Kimche
ISBN , 978 3 312 00544 4

Auf Seite 98 wird der Autor von seiner „Agentin Babajaga“ in strengem Ton gefragt, was der eine oder andere Leser als Frage denken mag: „Dafür, dass du angeblich so schüchtern bist, trägst du hier ganz schön schamlos deine Haut zu Markte. Weißt du, was ich glaube?“ – und antwortet auch gleich: „Ich glaube, du bist gar nicht schüchtern!“ und: „…dieses ganze Buch hier ist doch ein einziger performativer Widerspruch!…“ Sehr hübsch – denn der sich selbst als schüchtern bezeichnende, sich als schüchtern darstellende Autor, Florian Werner, Literaturwissenschaftler und Essayist, schildert anhand seiner eigenen Schüchternheitsbiographie mit literarischen und wissenschaftlichen Hinweisen, wieso sich sein Buch eben nicht als performativer Widerspruch entpuppt. Oder doch? – mag Frau Babajaga nachfragen. Wie dem auch sei – lesenswert allemal.Der Leser dieser Biographie eines Persönlichkeitsaspektes wird glänzend unterhalten (an manchen Passagen laut lachen, an vielen schmunzeln, an einigen Agentin Babajagas Frage unterstreichen) – durch humorvolle Wendungen, durch literarisch gebildete Sprache und einen elaborierten Code. Zudem gewährt der Autor fast beiläufig Einblick in historische, psychologische, biologische Kontexte und Überlegungen rund um sowie Auszüge aus einer sozialkritische Einbettung von Schüchternheit, die neben affirmativem Kopfnicken auch Erstaunen hervorrufen mögen, etwa wenn von dem Bedeutungswandel von Schüchternheit die Rede ist.Neben den be- und verhindernden Auswirkungen von ausgeprägter Schüchternheit hebt Florian Werner, ähnlich wie Susan Cain in Bezug auf Introvertiertheit, die hilfreichen, positiven und sozial nicht nur nützlichen, sondern gesellschaftliches Leben ermöglichenden, mindestens erleichternden Seiten von Schüchternheit hervor – zuweilen mit enormem Pathos, zuweilen humorvoll und jedenfalls nachdenkswert und konzentriert im Schlusskapitel „Aidotopia“. Mancher Leser wird bei dieser Wunschvorstellung melancholisch jener Zeiten gedenken, wenn nicht gar: ihr Wiederkommen ersehnen, in denen Schüchternheit als eine wünschenswerte Qualität des Verhaltens galt. 

Hanspeter Reiter / Dr. Regina Mahlmann