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Selbst ist der Mensch

Autor Damasio, Antonio
Verlag sonstige
Seiten 368 Seiten
ISBN 978-3-88680-924-0
Preis 24,99 Euro

Dem an neurowissenschaftlichen und neurophilosophischen Diskursen Interessierten werden Antonio Damasios Bücher bekannt sein. In seinem neuen Buch verlegt der (mit seiner Frau Hanna) primär an lädierten Gehirnen Forschende seinen Schwerpunkt und wagt sich auf ein Gelände, auf dem Bewusstseinsphilosophen zu Hause sind und das er um eine biologisch-evolutionäre Sicht bereichern will.

Er kündigt einen „Neuanfang“ im Kapitel „Erwachen“ an. Die „zwei Themen“, zu denen er sich verändert äußert, bezeichnet er so: „Ursprung und Wesen der Gefühle“ und „Mechanismen, die hinter dem Aufbau des Selbst stehen“ (18).

Selbstredend glänzen die neurowissenschaftlichen Aussagen in der Kompetenz des Experten. Fraglich wird dies dort, wo Antonio Damasio mit Begriffen, sprich: philosophischen und/oder psychologischen Konzepten hantiert. Zentral das des „Selbst“ (materiell, kognitiv; Selbst als „Zeuge“, als Agens, des „Geistes“ (etwa als „Ergebnis der Kartierungstätigkeit des Gehirns“, 82) und „Bewusstseins“ sowie des „bewussten Geistes“; ferner der dreigliedrige Aufbau des Selbst: Protoselbst, Kern-Selbst, autobiographisches Selbst (34ff, v.a. 193ff) – mit etwaigen Anleihen aus dem Konzept von George Herbert Mead: „I, Self, Me – und seine Konzeptualisierung von Gefühl und Emotion bzw. Gefühl der Emotion (mit etwaigen Anleihen auch von Paul Ekman). 

Hier ist nicht der Ort einer kritischen Würdigung, die schon deshalb umfassend ausfiele, weil sie spätestens mit Positionen des Logischen Empirismus, der ihm nachfolgenden Analytischen Philosophie, der ihrem „Geist“ erwachsenen Analytischen Sprach- und Kulturtheorie zu befassen hätte – neben den philosophischen Strängen, die sich explizit dem Bewusstsein widmen.

Die Hauptthese der biologisch-evolutionären Erklärung von Geist, Bewusstsein, Selbst, bewusstem Geist lautet: Bewusstsein [&] Co können nicht ohne Gehirn existieren; das Gehirn ist Teil des Körpers, also sind Bewusstsein, Selbst, bewusster Geist körperlich. Die phylogenetischen und ontogenetischen Entwicklungsmuster dienen ebenso wie die entwicklungsgeschichtlich nachvollziehbaren Etappen und Phasen der Gehirn(um)bildung als Beleg für nicht nur eine Korrelation, sondern eine Kausalität: Leibliches bringt Nicht-Leibliches hervor oder ist sogar identisch.

Maryanne Wolf und noch intensiver Stanislas Dehaene haben die Fertigkeit, lesen zu können, entwicklungsgeschichtlich nachvollzogen. Die biologisch-evolutionäre Perspektive auch für geistige Prozesse und Leistungen in Anschlag zu bringen und zu verfolgen, ist weder neu noch überraschend. Und der etwas informierte oder in der Thematik ein wenig kundige Leser wird Damasios eigenes Urteil, das er mehrfach notiert, nämlich etwas ganz Neues zu sagen, nur schwerlich nachvollziehen zu können. 

Irritierend und zuweilen systematisches Mitdenken erschwerend sind terminologische Ungereimtheiten. Mit welchen Bedeutungen der Autor „Geist“, „Selbst“, „Bewusstsein“ und andere wichtige Begriffe nährt, bleibt zu oft oder zu lange im Dunkeln oder Dämmrigen. Der Leser möchte den Autor doch zumindest verstehen, also mitvollziehen können, was er denkt und zu welchen Folgerungen er gelangt. Die Stolpersteine liegen in einer fehlenden oder spät im Buch notierten oder sich wandelnden semantischen Zuschreibung (z. B. die bei Gerald Hüther in „Innere Bilder“ gut nachvollziehbar beschriebenen inneren Muster, Bilder, Karten – diese terminologische Klärung bringt Damasio erst auf S. 76; oder die des Körpers und seinem Verhältnis zu Gehirn: explizit S. 104). 

Zuweilen glaubt man neben dem Wissenschaftler einen – nun ja – esoterisch oder spirituell Suchenden formulieren zu erleben. Das Präzise wird bezeichnender Weise dort vom Vagen abgelöst, wo es um nähere Zuschreibungen der Protagonisten und damit um Belege für die Hauptthese geht. Beispiel: „Wäre es möglich, dass unser sehr menschlicher, bewusster Wunsch zu leben …. als Summe des unbewussten Willens aller Zellen …. in unserem Körper ihren Anfang nahmen, als kollektive Stimme ….“ (48); C.G. Jung und Richard Dawkins lassen grüßen. Oder wenn er von der „Gerichtetheit des Gehirns gegenüber dem Körper“ (102) spricht, das es selbst ja ist und daher nicht ein „Gegenüber-Verhältnis“ haben kann.

Der bewusste Geist wird „unter dem Gesichtspunkt der Evolution von einfachen Lebensformen zu komplexen Organismen wie uns selbst“ (39)betrachtet. Kausale und zeitlich-sequentielle Herleitungen dominieren. Die Eindeutigkeit, mit der der Autor vieljährige moderne und Jahrhunderte währende traditionelle Kontroversen um das Leib-Seele-Problem, die Frage nach dem, was Bewusstsein und Geist auszeichne etc. und die nach dem Sinn (bei Damasio: biologischen Wert) beantwortet, irritiert zuweilen. Eine solch eindeutige Hypostasierung findet sich gleich am Beginn: „Die Antworten sind eindeutig. Es gibt tatsächlich ein Selbst, aber ist kein Gegenstand, sondern ein Prozess, und dieser Prozess läuft immer ab, wenn wir mutmaßlich bei Bewusstsein sind.“ (20) – was immer „mutmaßlich“ hier bedeuten mag. An anderen Stellen formuliert er vorsichtiger und kennzeichnet Überzeugungen als solche bzw. als Vermutung, Hypothese oder Meinung. 

Das Buch kann als Funken gelten, die Debatte um Bewusstsein, Selbst(-Bewusstsein) [&] Co bis hin zum Freien Willen im transdisziplinären Austausch insbesondere von Neurowissenschaftlern und Philosophen fruchtbar wieder zu entzünden. Das dies leistende Moment verdankt sich der Striktheit, mit der der Autor den evolutionären Ansatz und dem Fokus (Telos) auf „Verwaltung und Sicherung des Lebens“ als „grundlegende Voraussetzung für biologischen Wert“ (37), der wiederum u.a. immaterielle Werte definiert, allem überstülpt, was das Gehirn und seine Leistungen betrifft. (Dies übrigens, ohne als Biologist zu erscheinen, der der kulturellen Evolution nicht einen Eigenwert zumesse.) Das ist fruchtbar gerade angesichts der Brisanz des Verhältnisses von Materie und Nicht-Materie und der darum kreisenden Kontroverse (Transformation? Korrelation? Geburt/Hervorgehen? Anlage? Neue Fähigkeit? Verhältnis biologischer und kultureller Evolution mit ihren differenten Tradierungswegen, genetisch hier, Lernen dort?) In der Ausführung seiner Überzeugung wirft Antonio Damasio offenkundig alles in die Waagschale, was er vom Sujet als Fachmann und philosophierender Neurologe weiß – und dieses Wissen übertrifft das des Lesers in der Regel leicht, sodass dieser sehr viel lernen kann und eine Menge Stoff erhält, mit dem er gedanklich umherlaufen und arbeiten kann. 

Aus all diesen Gründen und weil der Leser dank der zuweilen persönlichen Äußerungen quasi mit dem Autor Überlegungen anstellen und sie mitverfolgen kann, sei auch diesem Buch eine Vielzahl an (idealerweise mit Vorwissen bepackte) Lesern gewünscht.

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

Dr. Regina Mahlmann