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Sich den Tod geben

Autor Jean-Pierre Wils
Verlag Hirzel
ISBN 978-3-7776-2940-7

Anlässlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2020 unterzieht Jean-Pierre Wils die Frage nach „freiwilligem“ Suizid, Sterbehilfe und jene nach dem „assistierten Suizid“ in seinem neuesten Buch einer umfangreichen Untersuchung. Der niederländische Philosoph, der an der Universität Nijmegen Philosophie lehrt und neben Philosophie auch Theologie studierte, tut dies grundlegend und aus mehreren, ganz unterschiedlichen Perspektiven: philosophisch, ideengeschichtlich, ethisch, sozio-historisch, empirisch, immer angeknüpft an die gegenwärtige Debatte. Diese erfährt somit eine profunde Einbettung. Ein höchst informatives und instruktives, weil zum Nach- und Weiterdenken anregendes Werk, in dem der Autor zudem seine eigene Position und deren Begründung kundtut.

Im Zuge dessen analysiert er akribisch Gesetzestexte, Schlüsselaussagen sowie Umwertungen und semantische Verschiebungen rund um die Vorstellung von „Autonomie“, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Emanzipation und die Bedingungen, unter denen Freitod, Sterbehilfe, assistierter Suizid sich vollziehen, verwirklicht werden können soll(te) bzw. unter welchen nicht, und dies stets unter Einbezug von Vorannahmen, Implikationen und Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft.

Jean-Pierre Wils begrüßt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als grundsätzliche Entscheidung und die Basisannahme personeller Autonomie, fordert indes dazu auf, sie in einen breiteren Horizont zu legen, zugrundeliegende Vorannahmen zu betrachten und bereits, etwa in den Niederlanden, Belgien, Schweiz, zu erkennende brisante, fragwürdige und zu debattierende Folgen zu gegenwärtigen sowie wahrscheinliche weitere Wirkungen für Kultur und Empirie im Alltag, in der gesellschaftlichen Realität zu beobachten und kritisch zu bedenken, einschließlich nötiger Differenzierungen und Kriterien(kataloge).

Ein Einblick in die Kapitel konkretisiert die abstrakten Hinweise.
„Die Ausgangslage“ durchstreift die gegenwärtige Diskussions- und Positionslandschaft, belegt mit Zitaten der jeweiligen Auffassung und der Pointierung ihnen zugrundeliegender Axiome, Theoreme und Hinweise auf Umwertungen in den Auffassungen zu Suizid und assistiertem Suizid.

„Wie wird die Zukunft des Suizids aussehen?“ illustriert im Angesicht der Liberalisierung der Sterbehilfe „drei dystopische Szenarien“ anhand Äußerungen von Günther Anders zum Sterben „im Zeitalter der dritten industriellen Revolution“, ferner anhand des bekannten Romans „The Circle“ von Dave Eggers, des Romans „Die Hochhausspringerin“ von Julia von Lucadou und dem Roman „Winter in Gloster Huis“ von Vonne an der Meer.

Zusammenfassend Jean-Pierre Wils: Die literarischen Fiktionen „spüren den Anzeichen einer stetigen Veränderung in Richtung einer Enttabuisierung des Suizids nach und spielen mit ihren Konsequenzen. Die Selbsttötung wird dargestellt als Folge von Technisierung, einer Persönlichkeitsstörung…, als Unwillen, sich den Zugriffen eines totalen Systems zu fügen…Der Suizid ist ein folgerichtiger Vollzug, wenn den Glücksversprechen des Systems nicht geglaubt wird.“

„Die Moral der Selbsttötung“ durchstreift die europäische Ethik der Selbsttötung und konturiert Paradigmenwechsel, einschließlich der Entstehungs-, Geltungs-, der Begründungs- und Deutungsbedingungen, a) epochal in Antike, Renaissance, Christentum, Humanismus, Aufklärung, b) analytisch im Abschnitt „Von der Existenzialisierung zur Pathologisierung“.

Das Kapitel „Wie umgehen mit dem assistierten Suizid? Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern“ skizziert nicht nur vergleichende Beobachtungen, sondern widmet sich ausführlich der Lage in Deutschland, sowohl bezüglich der Grundannahmen, Implikationen, offenen Fragen und Deutungsspielräume anhand des Urteils des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch der Rolle der „Assistenten“, Mediziner, Seelsorger und anderer (möglicher) Helfer. „Selbsttötungsdynamiken“ illustriert der Autor in extenso am Beispiel der Niederlande. Diesem Abschnitt folgt die Betrachtung von „Risiken der Leidensdefinition und -interpretation“, die alle Staaten betrifft, die assistierten Suizid vornehmlich an einem Leidensgrad messen, der durch Krankheit oder psychisches Leid bemessen wird und eine vermeintlich gefühlte Aussichtslosigkeit des Weiterlebens und deren Inakzeptanz geschuldet ist, verflochten mit den begründenden „Kernwerten“ „Selbstständigkeit“ und „Würde“. Jean-Pierre Wils betont auch hier eindringlich: „Die Funktionsweise der Sorgfaltskriterien darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden.“

Die Ausführungen münden unweigerlich in die nähere Betrachtung dessen, was Autonomie sei und wo ihre Grenzen lägen. Der Autor legt offen, inwieweit „Autonomie“ zum Prinzip, gar zu einem Konzept, einer Lebensphilosophie mit entsprechender Praxis gereift ist und inzwischen als „Begründungsmuster“ dominiert. „Autonomie ist …jene Berufungsinstanz, auf die in den sozialen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken Bezug genommen wird, sobald moralisch strittige Sachverhalte…..zur Diskussion stehen.“ Nicht nur, indes dominant in der Frage nach Selbsttötung und dem Wunsch nach assistiertem Freitod.

Jean-Pierre Wils stellt in seinen Zitatinterpretationen nicht nur heraus, dass aufgrund der Beziehungsdimension, der sozialen Umgebung und deren Einfluss auf den Einzelnen und seine Entscheidung die „Assistenz bei einer Selbsttötung …. überhaupt nicht selbstverständlich ist“, sondern unterstreicht zudem, dass im Horizont der Liberalisierung „soziale Tugenden wie Solidarität und Barmherzigkeit (…) oft vorschnell als Stützen des Autonomieprinzips betrachten (werden) und kaum als dessen Ergänzung oder gar als dessen Begrenzung zugunsten einer auf die Gemeinschaft bezogenen Perspektive.“ In diesem Kontext fallen einem das „Self“ bei George Herbert Mead ein und auch die Eigengesetzlichkeit des „Individuellen Gesetzes“ bei Georg Simmel. Man kann fragen, inwiefern Auto-Nomie, Selbst-Gesetzlichkeit im Sinn des unbeeinflussten, nackten Selbst, reine Fiktion ist, bereits angesichts des Umstandes, dass pränatale (empirische) sowie sozialwissenschaftliche Forschung und nicht zuletzt philosophische, biologische Anthropologie den Menschen als genuin sozial beeinflusstes Wesen ausweisen. Der Einbezug veränderte die Debatte fundamental.

Im Anschluss formuliert der Autor weitere Fragen, die einen „solidarischen Bürgersinn“ umkreisen mit der Fragerichtung, wie dieser eingedenk der Vorherrschaft des Autonomieprinzips überhaupt aussehen, entstehen und überleben kann, inwiefern seine Instrumentalisierung oder Funktionalisierung sich auf eine Liberalisierung des (assistierten) Suizids auswirken (könnte), inwiefern ein „schleichender Konformismus in Sterbeangelegenheiten“ sich Bahn bricht – mit entsprechenden Folgen für den Einzelnen, die Gesellschaft und Kultur (Werte, Normen, Praktiken). Diese und weitere Fragen (Normalisierung, Verrechtlichung, Anspruchsrecht etc.) diskutiert der Autor wiederum grundsätzlich, hermeneutisch und anhand von Zitaten, insbesondere aus Gesetzen und Kommissionen.

Im Abschnitt „Was die Sprache verrät und was sie verschleiert“ nimmt Jean-Pierre Wils die Sprache „genau unter die Lupe“, und zwar sowohl in ihrer präskriptiven als auch in ihrer deskriptiven Funktion und Wirkung und enttarnt auf diese Weise eher unausgesprochene Überzeugungen, transportierte Bedeutungen, Konnotationen und Bedeutungsverschiebungen, etwa anhand des Begriffs „Würde“ (deren Erfahrung und Verlust), oder im Umfeld der Rede vom Gehilfen beim assistierten Suizid im Typus „Lebensende-Begleiter“.

In dem Kapitel „Notwendige Erweiterungen der Perspektive“ dekliniert der Autor vier Kritiken, die er als einen „philosophischen Kommentar“ versteht, der „das Thema Suizid in einen größeren Kontext…, in einen kulturellen und gesellschaftlichen Kontext“ stellt. Im Programm stehen: die Betrachtung und Deutung des assistierten Suizids im Horizont „großräumiger Veränderungen unserer Lebensweisen, …Sprachgewohnheiten, … dominanten Erzählungen und …Ideale“; ferner Sachverhalte, die in der Regel zu wenig beleuchtet werden, und dies in dem Bemühen, jene „Einstellungen und Haltungen“ zu entdecken und einzubeziehen, die sich nicht in der Kammer einer expliziten Ethik befinden und dennoch hochgradig beeinflussen und Handlungen bahnen.

Die vier Kritiken beginnen mit „4.0 und die suizidalen Realfiktionen im Zeitalter der Optimierung“, die Autonomie und Selbstoptimierung als Entscheidungskriterien herausschält für oder gegen den Suizid, unabhängig davon, ob man in einem Ja eine autoaggressive Haltung vermutet.

Die zweite Kritik, „Die Klippen der Autonomie und der Hyperliberalismus“, weist das Pathos und die Emphase aus, die „Autonomie“ als entscheidende Referenz genießt, ein zweckrationales Weltverhältnis und Freiheit (der Wahl) als bestimmendes Lebens-, Sinn-, Referenzprinzip realiter begründet und als „Privatautonomie“ wirkt.

Die dritte Kritik, „Die Psychoökonomie der Argumente und das Sterbehilfenarrativ“, nimmt in den Blick „den Fokus auf den selbstbewussten und unternehmensfreudigen Einzelnen“ und dessen Gegenwartsbezogenheit mit den Akzenten auf „Menschenwürde“, vulgo und also banalisiert und trivialisiert als Wertschätzung, Respekt und wieder im Dunstkreis von Autonomie, Freiheitsgewinn, Glücksstreben als Messlatten für Sinnhaftigkeit von Leben, das Sich-Lohnen des Weiterlebens. In diesem Umfeld entwickelt sich, als „tragische Nebenfolge der Liberalisierung der Sterbehilfe“ ein „Druck, das Weiterleben rechtfertigen zu müssen“, und die Trauer der Hinterbliebenen wird kompliziert. Dies schließt das Phänomen innerfamiliärer Nachahmer ein, die jene Person, die durch einen assistierten Suizid starb, als vorbildhaft deutet. Liberalisierung und Individualisierung gebären Gefühl oder Selbstkonzept einer vollumfänglich das eigene Leben „im Griff“ habenden Person: Die Person als „Autor“ des eigenen Lebens, der sich – so könnte man mit Bezug auf den Titel des Buches anmerken – den Tod selbst „gibt“, schenkt, als „Gabe“ verabreicht.

Die vierte Kritik, „Unser Körper und die Konkurrenz von Biologie und Biographie“, pointiert der Autor so: „Der Suizid ist zu einem Lückenbüßer geworden. Er füllt den Hiat zwischen Biologie und Biografie aus – mittels einer ultimativen Schließung. Die Selbsttötung wird als Selbstfindung gewürdigt“.

Das Schlusskapitel „Der Konflikt der Menschenbilder“ resümiert in knapper Weise gegenwärtig wirkende kulturelle Vorstellungen, die die gezeigten Entwicklungen und die Umwertung von Freitod und assistierter Selbsttötung zu einem emanzipatorischen, zu einem freiheitlichen, zu einem Akt der Selbstverwirklichung erheben. Dies unter der Annahme, dass Welt-, Menschenbilder mit Charles Taylor „starke Wertungen“ enthalten; denn „sie transportieren Aussagen über Wichtiges und Nebensächliches, über Vorzuziehendes und Sekundäres. In ihnen verdichtet sich die Art und Weise, sie wir uns selbst verstehen können, verstehen wollen und verstehen sollen.“

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Regina Mahlmann