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Träume von Flüssen und Meeren

Autor Tim Parks
Verlag sonstige
Seiten 512 Seiten
ISBN 978-3888975790
Preis 24,90

Das ist wieder einmal die Geschichte verspäteter Emanzipation des Sohnes von den Eltern, entwickelt erst durch deren Tod: Zunächst stirbt der „Über“vater, der doch so häufig erfolglos scheiternd ist – schließlich auch die Mutter, die von Ihrem Sohn zu spät verlangt, endlich auf eigenen Füßen zu stehen. Eingewoben Geschichten von Liebe und Schmerz, unausgesprochenen Gedanken und selbst erdichteten Erinnerungen, wortlosem Verständnis oder auch nur scheinbarem Einverstandensein, nicht ausgesprochenen Geständnissen und letztlich: Konstruktion. Da will ein Journalist die Lebensgeschichte des ? Soziologen schreiben, ihn dazu interviewen – und findet ihn beim Eintreffen in Indien tot. Die Ehefrau des Verstorbenen will eben diese Biografie verhindern und schließlich doch zulassen – was der Sohn der beiden wiederum konterkariert, indem er seiner Mutter Testament verschwinden lässt. Figuren von Vater und Sohn fließen ineinander, mithilfe einer jungen Inderin als Katalysator… Als Roman für sich durchaus spannend, immer wieder überraschend, mit einem überraschenden ? Plot. Zugleich Gesellschaftsbild, eher Vexierbild: Großbritannien hier, Indien dort, mit viel gemeinsamer Geschichte und doch so gegensätzlich. Das Ganze schließlich auf dem Hintergrund einer wahren Figur, die doch nicht einmal wirklich angedeutet sein soll, so der Autor:

„Diejenigen, die Gregory Bateson und seine Arbeit kennen, werden feststellen, dass ich Elemente aus seinem Leben und seinen Schriften verwendet habe, um die Figur des Albert James zu schaffen. Gleichzeitig dürfte jedoch deutlich sein, dass das Leben der beiden sich in nur einigen Aspekten ähnelt… Leser, die etwas über seine bemerkenswerte Arbeit erfahren möchten, sollten dazu auf keinen Fall das vorliegende Buch konsultieren, denn die hier erzählte Geschichte ist frei erfunden.“

Dennoch seien einige Zitate aus dem Buch von Tim Parks erlaubt:

„Indem er von der Biologie zur Anthropologie, dann zur Kinetik, Proxemik und Kyernetik wechselte, hatte er seine berühmte Theorie der nichtmanipulativen Forschung entwickelt: Jede bestehende Kultur ist klüger als ihre fremden Besucher und Möchtegern-Wohltäter … Veränderungen würden langfristig unberechenbare Folgen haben.“ (S. 51)

„… hat er gerne die verschiedensten Dinge und Menschen ausführlich beobachtet, um herauszufinden, ob er sie irgendwie aufeinander abbilden konnte… Er hat uns immer gesagt, wir würden nie irgendwelche Erkenntnisse über Spinnennetze gewinnen, wenn wir sie nicht auf etwas ganz Anderes drauflegten und damit verglichen: mit U-Bahn-Netzen, Blattmaserungen, Choreografien.“ (S. 255)

„Helen wusste, dass Albert ihr nicht die ganze Wahrheit über sein Leiden gesagt hatte. Aber dieses Wissen stand nicht für Reflexion oder Erläuterungen zur Verfügung. Es war weggeschlossen… Dieser dunkle Teil ihrer beider Selbst und ihr jeweiliges Bewusstsein davon waren notwendig, um die Ehe, die sie führten, möglich zu machen…“ (S. 349)

Abschließend schafft Sohn John, sich auf die Fähigkeiten seiner Verlobten einzulassen, eine Art Mimikry, mehr als Imitieren, hier der Schlusssatz: „Küss mich, Johne, sagte sie. Küss mich unter Wasser. Ihr Tonfall war sachlich. John holte tief Luft, schloss die Augen und tauchte ein.“ (S. 510)

Angeregt, vielleicht auch (mal wieder) zu Gregory Bateson zu greifen? – HPR

Hanspeter Reiter