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Unschuld

Autor Jonathan Franzen
Verlag rowohl
ISBN 978-3-498-02137-5

Der Titel pointiert tatsächlich exzellent, worum es in diesem Opus magnum geht: Um Unschuld – und um Schuld, Schuld haben, ablehnen, annehmen … Dass die Hauptperson mit ihrem eigentlichen Vornamen eben „Unschuld“ heißt (Purity nämlich, im Roman übersetzt mit „Reinheit“?!), sollte der Autor nun wahrlich auch so pointiert gemeint haben … Vielleicht gar in einer Art „Jungfern-Zeugung“ entstanden? Ich weiß, ein wenig weit her geholt, andererseits …: „„Die junge Pip Tyler weiß nicht, wer ihr Vater ist. Das ist keineswegs ihr einziges Problem: Sie hat Studienschulden, ihr Bürojob in Oakland ist eine Sackgasse, sie liebt einen verheirateten Mann, und ihre Mutter erdrückt sie mit Liebe und Geheimniskrämerei. Pip weiß weder, wo und wann sie geboren wurde, noch kennt sie den wirklichen Namen und Geburtstag ihrer Mutter. Als ihr eines Tages eine Deutsche beim „Sunlight Project“ des Whistleblowers Andreas Wolf ein Praktikum anbietet, hofft sie, dass der ihr mit seinem Internet-Journalismus bei der Vatersuche helfen kann. Sie stellt ihre Mutter vor die Wahl: Entweder sie lüftet das Geheimnis ihrer Herkunft, oder Pip macht sich auf nach Bolivien, wo Andreas Wolf im Schutz einer paradiesischen Bergwelt sein Enthüllungswerk vollbringt. Und wenig später bricht sie auf. «Unschuld», eine tiefschwarze Komödie über jugendlichen Idealismus, maßlose Treue und den Kampf zwischen den Geschlechtern, handelt von Schuld in den unterschiedlichsten Facetten: Andreas Wolf, in Ost-Berlin als Sohn eines hochrangigen DDR-Politfunktionärs geboren, hat aus Liebe zu einer Frau vor Jahren ein Verbrechen begangen; ein Amerikaner, dem er in den Wirren des Berliner Mauerfalls begegnet, hat den Kinderwunsch seiner Frau nicht erfüllt und sie dann verlassen; dessen neue Lebensgefährtin kann ihrem Ehemann, der im Rollstuhl sitzt, nicht den Rücken kehren und pflegt ihn weiter … In diesem fulminanten amerikanisch-deutschen Gesellschaftsroman eines der größten, sprachmächtigsten Autoren unserer Zeit überschlagen sich die Ereignisse. Und bannen den Leser bis zum Schluss.“ Da kommt also eine Menge zusammen: Das (mehr oder weniger gelungene) Aufarbeiten von Stasi-Zeiten und –Akten in der Nach-Wende-Zeit aus der Sicht (ausgerechnet) eines US-amerikanischen Autors und das Umgehen mit Verbrechen in der DDR. Rassismus und Behinderung, Verhältnis(se) von Mann und Frau, gesellschaftliche Ent-und Verwicklungen in den USA: Es gibt viel zu tun … Dafür sorgen auch und gerade Whistleblower, die geheime wie auch geheim gehaltene Dokumente übers Internet allgemein verfügbar machen. Zwei davon sind (diesseits der berühmten wie Julian Assange, auch genannt) Tom Aberant und Gegenspieler Andreas Wolf. Dass letztlich das Geheimnis um Pips Vater auch durch Whistleblowing gelüftet wird, mag nur bedingt überraschen wie auch zufrieden stellen: Ist so für ein happy-ending gesorgt? Das wird Leser selbst entscheiden, nach mehr als 800 Seiten. Auf denen – typisch Franzen?! – nach der einführenden Story deren Hintergrund aufgedröselt wird, indem Leser in unterschiedlichen Strängen aus der Sicht nach und nach aller Hauptpersonen Vorgeschichten miterleben darf. Alle erzählend eingebracht, mit Ausnahme jener von Tom Aberant, der aus der Ich-Perspektive berichtet: ein Zeichen? Mag sein  … HPR

Hanspeter Reiter