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Wittgensteins Sprachspiel der Emotionen

Autor Anna Stuhldreher
Verlag Kadmos
ISBN 978 3 86599 208 6

Ludwig Wittgenstein ist vor allem als Sprachpragmatiker bekannt, insbesondere der Begriff und das Konzept der Familienähnlichkeit, Lebensform und Sprachspiele hat Furore gemacht. Weniger bekannt sind seine Ausführungen zum Thema Emotionen, einschließlich ihres Zusammenhangs mit Ethik, Ästhetik und Religiosität, die – der Titel der Dissertation deutet bereits darauf hin  – ebenfalls im Paradigma des Pragmatischen, der Familienähnlichkeit und des Sprachspiels eingebettet sind.

Die Verfasserin verortet die Gedanken und Ausführungen Wittgensteins, insbesondere seiner Spätschriften, in Abgrenzungen und fragt nach wesentlichen Einflüssen anderer Theoretiker (Philosophen, Psychologen) auf die Fragestellungen, die sich Wittgenstein vornimmt. Sie zeigt ausführlich die anregenden Einflüsse von Charles Darwin (biologische Evolution und prägende Wechselwirkungen durch Kultur), William  James (physiologische oder materialistische Emotionstheorie, Religiösität, Ethik) , auch die kulturphilosophischen Überlegungen Oswald Spenglers und die Erörterungen um das Konzept des Common Sense bei George Edward Moore im Kontext von unbezweifelbaren, unbegründeten und unbegründbaren Gewissheiten.

Ludwig Wittgenstein, so die Verfasserin, geht es nicht um eine Theorie der Emotionen im Gefäß wissenschaftlicher Kausalaussagen, sondern um eine Beschreibung, wie sie sich zeigen, wann sie sich wie zeigen, in welchem Verhältnis sie zu Deutungen stehen, wie sowie für wen (1. Person, 3. Person) sie zum „Gegenstand“ von Deutung werden können. Wittgenstein versucht – in Abgrenzung von mentalistischen wie materialistischen Erklärungen – Emotionen als sowohl-als-auch, als biologisch bedingte primitive Reaktionen, die sich je nach Sprachspiel, Lebensform und/oder Weltsicht different zeigen, immer aber unbedingt an körperliches Ausdrucksvermögen gekoppelt zu erweisen.

Emotionen gelten Ludwig Wittgenstein als biologisch und körperlich gebunden disponiert (deshalb gibt es Familienähnlichkeiten unter allen Menschen): Sie gehen mit leiblichem Ausdruck immer einher (keine Kausalität, sondern Parallelität oder Korrelation); Emotionen gehorchen nicht nur der Logik und den Regeln des jeweiligen Sprachspiels, innerhalb dessen Emotionen ausgedrückt werden, sondern auch der Lebensform und dem Weltbild. Emotionen sind also kontextabhängig. Dabei ist wichtig zu beachten, dass Kontext hier zeitlich alle Dimensionen umfasst: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. 

Emotionen, biologisch basiert und sozio-kulturell formiert, sind in ihrer Unmittelbarkeit unbeschreibbar und für andere, Dritte, weder falsifizierbar noch validierbar (was allem tiefenpsychologischen und humanistisch-psychologischen Deuten von Emotionen, geschweige denn der Suche nach dem Eigentlichen und seiner Botschaft, das im Hintergrund einer Emotion kauern mag, den Garaus macht; interessant für alle, die mit Emotionen „arbeiten“!). Emotionen sind unmittelbar gewiss und beruhen auf nicht weiter befragbaren Selbstverständlichkeiten, Gewissheiten, primitiven Reaktionen. Zudem sind sie unbeschreibbar – ganz im Einklang mit der Differenz zwischen der gebundenen Ausdruckshaftigkeit und der Perspektive sowohl des fühlenden Subjekts als auch einer dritten Person. (Auch dies könnte eine spannende Diskussion für Praktiker im Gefolge haben, etwa zum Thema „emotional führen“.)

Ebenso wie Emotionen lassen sich Ethik, Ästhetik, Religion nicht wissenschaftlich einkreisen; denn sie sind nach Wittgenstein emotional basiert, getränkt, und verweigern sich rationaler/ rationalistischer und kausaler Annäherung. Diese emotionale Grundierung ebenfalls aufzuzeigen, ist insofern erhellend, als häufig versucht wird, ethische, ästhetische, religiöse Fragen zum Gegenstand von Wahrheitsdiskussionen zu machen, im Sinn von universell gültigen, objektiven Wahrheiten. Das ist – nicht nur nach Wittgenstein – absurd.

Die Dissertation, zwar etwas ungelenk geschrieben, lohnt die Lektüre für alle jene, die nicht nur neugierig auf Wittgensteins Ausführungen zu einem vermeintlich nichtsprachlichen Thema sind, sondern sowohl ein vertieftes Verständnis seines Denkens erlangen möchten als auch Inspirationen suchen, um das gegenwärtig herrschende Emotions-Pathos zu relativieren – auch, wenn Ludwig Wittgenstein damit vielleicht nicht einverstanden wäre.

Dr. Regina Mahlmann, www.dr-mahlmann.de

 

Regina Mahlmann